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Katarina Genar

Der rubinrote Mantel

Nr 180 | Dezember 2014

gelesen von Simone Lambert

Es ist Herbst, als Livia ihren elften Geburtstag feiert. Das Geburtstagsgeschenk ihrer Eltern ist ein roter Mantel – weich, warm und schwingend. Es ist ein antikes Stück und Livia ist glücklich damit. Mehr noch, der Mantel hat Einfluss auf sie, er scheint sie zu lenken. Livia folgt ihren Eingebungen, behält aber ihre neuen Erfahrungen als ein Geheimnis für sich. Ihre Eltern bemerken,
dass sie die Zeit vergisst, gedankenverloren wird, und machen sich Sorgen.
Livias Schulweg führt über den Friedhof. Als sie einen Seitenweg einschlägt, entdeckt sie das vergessene Grab eines Mädchens: Elin starb 1932 und wurde nur elf Jahre alt. Livia will das vergessene Grab von Elin verschönern und geht noch vor der Schule heimlich auf den Friedhof, es ist noch Nacht. Immer wieder besucht sie den Friedhof und eines Tages trifft sie dort auf einen sehr alten Mann mit Pantoffeln und Rollator. Er erkennt Livias Mantel …
Auszüge aus Elins Tagebuch bilden kapitelweise Rückblicke in die Vergangenheit. Elin war ein uneheliches Kind und hatte Tuber­ku­lose. Sie war isoliert, wegen der Ansteckungsgefahr, und litt unter der Einsamkeit. Selbst ihre Mutter vermied Nähe und Berührung. Elins Wunsch war es, Schriftstellerin zu werden, sie führte ein Tagebuch. Krank lag sie im Bett oder saß am Fenster und sah auf denselben Friedhof, den Livia auf dem Weg zur Schule überquert. Sie kannte jeden Passanten, bis auf den Mann mit dem Schlapphut, der eines Tages an der Wohnungstür klingelte und ihr ein Paket überreichte …
Der Kinderroman von Katarina Genar erzählt die Geschichte des roten Mantels, eines 80 Jahre alten Kleidungsstücks, das den Schlüssel für ein lange verborgenes Geheimnis birgt.
Genar schreibt zugleich von einem hochsensiblen Mädchen, das für Unsichtbares, für Schwingungen empfänglich ist. Livia, die als Einzelkind von ihren Eltern mit Respekt und Vertrauen behandelt wird, nimmt die Botschaften aus der Vergangenheit wachsam, aber angstfrei an. Ihre Erlebnisse sind etwas, das sie mit sich abmacht, etwas, das – wie eine Initiation – am Beginn ihres individuellen Lebens steht. Entscheidend ist, dass die Vergangenheit schließlich in der Gegenwart abgeschlossen wird und in einer konkreten Beziehung mündet – zu Johansson, dem alten Mann, der als Kind Elins nachbarlicher Freund war. Ein Versäumnis Elin gegenüber grämte ihn sein Leben lang. Livia kann dazu beitragen, seinen Kummer aufzulösen.
Und Livia entdeckt die Dimension der Vergangenheit. Die Leser erleben, dass Dinge eine Seele haben und eine Geschichte transportieren können. Livias Empfänglichkeit erinnert und würdigt Elins kurzes, tragisches Leben und ihre Wahrheit kommt ans Licht. Sie erfährt von Lebensumständen in der Vorkriegszeit, vom sozialen Stigma, ein uneheliches Kind zu sein oder zu haben, vom menschlichen Versagen einer noch zu Livias Zeit hochangesehenen öffentlichen Person, davon, dass eine verpasste Gelegenheit lebenslangen Kummer verursachen kann. Am Schluss ist Elin nicht mehr allein und vergessen – ein Ende, das dem Gerechtigkeitsgefühl des jugend­­lichen Lesers entgegenkommt.

Dies ist ein feiner, sensibler Kinderroman, fast eine Novelle, zugänglich durch eine klare, einfache Sprache, der einen Sinn für das Unsichtbare zu wecken vermag.