Birte Müller

Sprache schafft Wirklichkeit (nicht ab)

Nr 182 | Februar 2015

Kinder lernen im Kindergarten wahrlich viel voneinander – und nicht nur Schimpfwörter und Karate-Kicks! Olivia brachte schon in den ersten Wochen das «Um-die-Wette-Prinzip» mit nach Hause. Als ich sie auf die Toilette begleitete, rief sie plötzlich an der Tür im Ätschibätsch-Tonfall: «Ich habe gewonnen, du bist Sieger!» Als ich nicht weiter reagierte, weil ich solche Wettbewerbe generell – und besonders solche, an denen ich nicht mal wissentlich teilgenommen habe – nicht mag, wiederholte sie mehrmals jubilierend: «Ich hab gewonnen, du bist Sieger!» Nun war ich aber doch neugierig geworden, denn tatsächlich konnte ich ihr nicht folgen. Also fragte ich nach, wer denn nun von uns der Gewinner sei. Da erklärte meine Tochter mir genervt, dass sie doch eindeutig Erste gewesen sei und ich folglich nur der zweite Sieger, also der Verlierer!
Was für ein wunderbares Beispiel dafür, wie ambitionierte Päda­gogen versucht haben, durch die Verklausulierung des Wortes «Ver­lierer» eine Wirklichkeit zu schaffen, in der alle Kinder «Gewinner» sind. Doch damit kann man in unserer Leistungsgesellschaft keinen Dreijährigen austricksen! Einer gewinnt – einer verliert: fertig!
Auch beim Thema Behinderung versucht man ja mit Vor­liebe, durch neue Wortverschwurbelungen eine Realität zu kaschieren, die sich aber nicht kaschieren lässt – und meiner Meinung nach auch nicht kaschiert werden muss. Jüngst hörte ich für «geistig be­hindert» die Unwortkreation «praktisch bildbar». Grausam! Warum um etwas herumreden, was Fakt ist? Mein Sohn ist geistig be­hindert. Das muss aus meiner Sicht auch nicht be­schönigt werden, weil daran gar nichts Schlimmes ist.
Klar, Willi wird viele Dinge niemals lernen können, und unser Alltag ist anstrengend. Aber Behinderung ist unsere Realität, und ich erwarte von unserer Gesellschaft, das so anzunehmen, wie ich mein Kind annehme. Ich bin weder bereit, uns als Opfer eines diskriminierenden und uns behindernden Umfeldes zu sehen noch unser Leben heldenhaft zu beschönigen.
Die Bezeichnung «geistig behindert» wird vielerorts diskutiert. Ich finde es sehr traurig, dass selbst zahlreiche betroffene Menschen es nicht mehr hören mögen. Aber ich bin nicht bereit, diese Bezeichnung jenen zu überlassen, die denken, ein Mensch mit Behinderung sei weniger wert! Ich möchte sie zurückerobern, so wie es die Schwulenbewegung mit dem Wort «schwul» geschafft hat! Mein Kind ist behindert – NA UND? Ich bin stolz auf meine Kinder, so wie sie sind!
Und wenn man wirklich meint, mit Sprache die Welt verändern zu können, dann sollten wir das Wort «behindert» vielleicht lieber mal aus anderen, extrem negativen Zusammenhängen herausstreichen: Solange es in den Nachrichten heißt, dass es durch Bahn- oder Fluglotsenstreiks zu Behinderungen kommen wird, kann das Wort niemals unbelastet sein! Vielleicht sollte man es mal versuchen mit «Bahnkunden sind ab morgen mal wieder die zweiten Gewinner.» Aber auf jeden Fall muss «behindert» als Schimpfwort überall ein absolutes No-Go sein!
Manche mögen meinen, dass man mit einem behinderten Kind gesellschaftlich ein Verlierer ist. Aber wir sind nicht die «zweiten Sieger»! Ich bin wahrhaft glücklich, dass ich nicht Teil der Eltern­schaft sein muss, die beim Dosenwerfen vollkommen verspannt neben ihren ehrgeizigen Kindern steht und darauf starrt, ob Linus-Marten die Linie übertreten hat und deswegen eigentlich Hannah-Sophie die Gewinnerin sein müsste ... Mein behinderter Sohn Willi, der den Sinn und Zweck von Wettkämpfen (und Wort­schöpfungen) überhaupt nicht begreift, ist bei jedem Wettlauf einfach immer der, der am meisten Spaß hat!