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Holger Wolandt

Schreibtischträume

Nr 183 | März 2015

Mein Schreibtisch ist ein deutscher Küchentisch aus den 1960er- Jahren mit einer abwischbaren graugemusterten Resopal-Oberfläche. Die Beine sind auf Schreibmaschinentischhöhe abgesägt. Ich sitze auf einem stabilen dunkelbraunen Küchenstuhl.
An diesem Tisch und auf diesem Stuhl habe ich schon als Student in München und später dann in Hamburg und in Berlin gesessen. Jetzt leistet er mir schon seit etlichen Jahren in Stockholm im Stadtteil Vasastan gute Dienste.
Mein Blick fällt auf Bücherregale. In dem halbhohen Billy-Regal stehen die Wörterbücher, u.a. der Muret-Sander, das zweibändige Englisch-Deutsche Wörterbuch von Langenscheidt (10. Auflage, 1992), die dritte (und letzte) Auflage des Auerbach (Schwedisch-Deutsch) von 1959 und Tom Hustads Norwegisches-Deutsches Wörterbuch von 1979. Diese Bücher wurden nie übertroffen und das Internet wird sie nie ersetzen können.
Aufgestapelt liegen hinter mir etwa zweihundert Bände Selma Lagerlöf: Ihre Werke in verschiedenen Ausgaben und Auflagen, sieben Bände Briefe, die großen klassischen Biografien von Berendsohn, Wägner und Edström, die gesamte Sekundärliteratur einschließlich der türkisgrünen Jahrbücher der Selma Lagerlöf-Gesellschaft. Diese Bücher habe ich über viele Jahre in Stock­holmer Antiquariaten gekauft: Bei August, im Strindberg-Haus um die Ecke, bei Aderton (Achtzehn) in der Norrtullsgatan, das nach den achtzehn Mitgliedern der Schwedischen Akademie benannt ist, die jedes Jahr den Nobelpreis vergibt und der Selma Lagerlöf als erste Frau ab 1914 angehörte, bei Alfa und bei Rönnells.
Seit über dreißig Jahren lese ich Selma Lagerlöf im Original: In München studierte ich sie in einem Seminar des Skandinavisten Hans Ritte, später dann immer wieder aus Neigung oder um das eine oder andere Nachwort zu ihren Romanen oder Er­zählungen zu verfassen. Schon einmal wollte ich ein Buch über die von mir geliebte Autorin schreiben, das zu ihrem 150. Geburts­tag 2008 hätte erscheinen sollen. Damals sagte mir der Heraus­geber einer sehr etablierten Reihe, Biografien ließen sich in den Zeiten von Wikipedia nicht mehr verkaufen.
2015 begehen wir Selma Lagerlöfs 75. Todestag – und eigentlich ist dieses Jubiläum angemessener, da sie Probleme wie Seelen­wanderung und die Frage, was nach dem Tod kommt, zeit ihres Lebens stark beschäftigt haben.
Mein Schreibtisch steht in einem Gebäude aus dem Jahr 1888 – und es kann gut sein, dass Selma Lagerlöf an diesem Haus hin und wieder vorbeigelaufen ist, als sie in Stockholm ihre Tante besuchte, die am nur fünf Minuten entfernten Hötorget wohnte. 1888 war Selma Lagerlöf bereits Lehrerin in Landskrona. Gegen den Willen ihres Vaters hatte sie 1881 das Gut Mårbacka in Värmland verlassen, um in Stockholm das Lehrerinnenseminar zu besuchen – sie hatte seinen Konkurs nicht abwarten wollen, um sich dann womöglich gezwungen zu sehen, irgendwo als Gouver­nante ihr Leben zu fristen.
In meinem Buch, Selma Lagerlöf – Värmland und die Welt. Eine Biografie,* habe ich versucht, diese Jahre zu rekonstruieren: Lagerlöfs überaus lesenswerte dreibändige Memoiren brechen vorher ab, da sie es zu schmerzhaft fand, über diese Zeit zu schreiben. Später eroberte sie mit ihrer Freundin Sophie Elkan die Welt und reiste unter anderem nach Sizilien und ins Heilige Land, wo sie die Stoffe für ihre Romane fand. – Ich sitze an meinem Schreibtisch und träume davon, dass ich mir von den Tantiemen für das Lagerlöf-Buch eine Reise nach Sizilien werde leisten können, um wie die beiden Freundinnen im Grand Hotel Timeo in Taormina zu wohnen und Selma Lagerlöfs großartigen Sizilien-Roman noch einmal zu lesen: Dieses Mal nur zum Vergnügen.