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Gerlinde Kurz

Strandgut

Nr 186 | Juni 2015

gelesen von Simone Lambert

Dies ist die Geschichte, in der Jakob, der mit seiner Mutter und ihrem Mann in ein kleines niedersächsisches Dorf an der Elbe zieht, seine Wurzeln findet, so zufällig wie ein Stück Treibholz am Strand. Jakob, der gut schwimmt und der Schlüssel sammelt.
Aus der Ich-Perspektive erzählt, folgt der Roman seinem Bewusst­seins­strom. Und der ist, einem Jugendlichen gemäß, anfangs triebhaft und egoistisch: man muss, man hat Hunger, man möchte sich um die Arbeit drücken, man will es bequem. Dieses Bewusstsein wird sich weiten und vertiefen mit der Geschichte, die Jakob erlebt.
Trotz des männlichen Protagonisten ist Strandgut ein frauen­dominierter Roman. Jakob hat eine enge Beziehung zu seiner Mutter, auch wenn er Jan, seinen Ziehvater, sehr mag. Dann ist da Hannah, das rothaarige, impulsive Mädchen aus seiner neuen Klasse, das ihm dauernd über den Weg läuft. Ihm hilft, ihn einlädt, sich einlädt. Als die Schule wegen einer grassierenden Viruserkrankung geschlossen wird, und um das Betreuungsproblem zu lösen, er­klärt sich Jakobs Mutter einverstanden, ihren Sohn gemeinsam mit Hannah eine Woche auf eine Nordseeinsel zu schicken, zu Hannahs Tante Wiebke. Wiebkes Nachbarin heißt Stine und ist die Schlüsselfigur zu Jakobs Vergangenheit.
Diese Woche wird zu Jakobs Erwachen. Es ist eine sehr sinnliche Zeit mit Meeresbrisen, Gewitter und regennassen Kleidern, Kaffee- und Kuchendüften. Fremd sein, untergebracht sein in einem unbekannten Zimmer – das entlastet und konzentriert. Wiebke ist eine patente, entschlossene Frau, die aus Treibholz Bilder­rahmen baut. Auch das ein Symbol: Jakob findet hier nicht nur den Rahmen für sein Leben, er baut ihn gleich selbst.
Hannah ist besorgt, als sie hört, dass Stine, Wiebkes liebenswerte greise Nachbarin, wegen einer gebrochenen Hüfte im Krankenhaus liegt und offenbar verwirrt ist. Jakob ist nicht begeistert von der Idee eines Krankenbesuchs, geht aber doch mit. Dann aber redet ihn die unbekannte Stine mit seinem Namen an und meint, ihn zu erkennen. Stines Rätsel wachsen sich zu einem veritablen Ge­heimnis aus, das weit in die Vergangenheit zurückreicht. In Jakobs Vergangenheit … Eine Mutter, die eine kostbare Erinnerung wie einen Schatz hütet und verschweigt, eine schmerzliche Verbindung, die ein ganzes Leben prägt, eine Erfahrung von Angst und Terror, die weit in die politische Geschichte Deutschlands zurückführt. Für das «irrsinnig schwere(n) Gepäck alter Geschichten» findet Stine schließlich die passenden Worte: Aber dieses ewige Gerede über alle Dinge, wie es heutzutage modern ist, vermag auch nicht alles aufzulösen. Große Wunden brauchen einfach viel Zeit, um zu verheilen, ob nun mit oder ohne lange Gespräche. Manchmal dauert es Generationen. Was sind dagegen schon diese paar verschwiegenen Jahre? Wisst ihr, ich glaube, es gibt so etwas wie ein Schicksal, vor dem keiner weglaufen kann. Hat es sich nicht gefügt, dass wir uns gefunden haben?
Und so transformiert sich Jakobs Oberflächlichkeit in Tiefe, Ge­schichts­tiefe. Er, der nie nach ihm gefragt hat, erfährt etwas über seinen Vater und macht gemeinsame Pläne. Große Fragen nach Entscheidungen und Fehlentscheidungen werden bewegt und sinnvoll geordnet.

Dieser Roman, der anfangs so leichtfüßig und zufällig wirkt, verleiht den Dingen eine Ordnung! Und das ist eine kostbare Leseerfahrung.

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