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Andreas Meyer

Wirklichkeit und Vision

Nr 187 | Juli 2015

Er gilt als der bekannteste griechische Komponist des 20. Jahr­hunderts. Seine Filmmusik zu Alexis Sorbas und seine Vertonung des Canto General nach Texten von Pablo Neruda machten ihn über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Die mehr als tausend von ihm geschaffenen symphonischen Kompositionen und Lieder zählen zum Volksgut Griechen­lands. Zahlreiche Ehrungen und Aus­zeichnungen zeugen von seiner weltweiten Anerkennung als einer «Stimme der Freiheit und des Friedens» – und wann immer es um die Verteidigung der Frei­heit und Unabhängigkeit seines Landes geht, mischt er sich ein: Mikis Theodorakis, der am 29. Juli 2015 seinen 90. Geburtstag feiert.
Wer ihn einmal eines seiner Werke hat dirigieren sehen, kennt das Feuer und Temperament, das in ihm brennt.
Als ich Theodorakis Mitte der 1980er-Jahre in einem Studenten­klub in Berlin kennenlernte, baten wir ihn nach dem Konzert noch im kleineren Kreis aufzuspielen und uns den Sirtaki-Tanz beizubringen. Er ließ sich nicht lange bitten – und schließlich tanzten wir zusammen bis in die frühen Morgenstunden.
Mikis Theodorakis wurde auf der Insel Chios geboren und schrieb schon als Kind seine ersten Lieder. In vielen Gegenden Griechen­lands waren damals – wie noch heute – weder Musikunterricht möglich noch standen Musikinstrumente zur Verfügung. Erst ab 1940 bekam er Musikunterricht und gab mit 17 Jahren sein erstes Konzert mit einer eigenen Komposition. Bereits während der Zeit seines Musikstudiums in Paris hatte er beachtliche internationale Erfolge, seine Lebensaufgabe aber sah er in Griechenland. Er wandte sich den Wurzeln der griechischen Musiktradition zu, um diese mit westlichem Symphonieorchester, Volksinstrumenten und Texten der großen griechischen Lyriker zu verbinden. Damit er­reichte er, dass die Werke griechischer Dichter gesungen wurden. In Axion esti beispielsweise vertonte er Texte des griechischen Literatur-Nobelpreisträgers Odysseas Elytis und im Liederzyklus Epitaphios Gedichttexte von Giannis Ritsos.
Theodorakis kämpfte stets um die Würde und Freiheit des Men­schen und verschmolz dabei Musik und politisches Engage­ment zu einer Einheit. Bereits seine erste Symphonie behandelt das Tabu­thema des griechischen Bürgerkrieges und versucht, die daraus entstandenen Wunden zu heilen. Er hatte diese Zeit selbst erlitten und schwere Prüfungen durchgemacht. Während der Besatzungs­zeit im Zweiten Weltkrieg gehörte er der Wider­stands­bewegung an und wurde mit 18 Jahren erstmals inhaftiert und gefoltert. Im Bürger­krieg wurde er 1947 als kommunistischer Regime­gegner verhaftet, ins Konzentrationslager auf der Insel Makronisos deportiert, gefoltert und zweimal lebendig begraben. Während des Militärputsches im April 1967 veröffentlichte er aus dem Untergrund seinen Aufruf zum Widerstand, woraufhin er erneut verhaftet, seine Musik verboten und das Singen seiner Lieder mit Gefängnisstrafe belegt wurde. Eine internationale Solidaritäts­bewegung unter der Führung von Dimitri Schosta­kowitsch, Leonhard Bernstein, Harry Belafonte u.a. setzte sich für seine Frei­lassung ein, und er konnte 1970 ins Exil nach Frank­reich. Auf zahlreichen Tourneen setzte er seinen Kampf bis zum Sturz der Militärregierung 1974 fort und wurde für Millionen von Menschen zum Symbol des ungebrochenen Widerstands gegen die griechische Diktatur. Bei seiner Rück­kehr feierte man ihn wie einen Volks­helden. Rückblickend sagte er: «Ich gehöre einer Generation an, die sich einem extremen Idealismus verschrieben hatte. Mein Leben war ein unaufhörlicher Kampf zwischen dem Idealen und dem Wirklichen, dem All­täg­lichen und der Vision.» Bei seinem Rückzug aus der aktiven Politik verabschiedete er sich mit Bitterkeit: «Entschuldigt mich! Künftig mache ich euch mit meinen Visionen nicht mehr das Leben schwer.» – Und doch mischt er sich bis heute ein.