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Iain Lawrence

Die Tochter des Leuchtturmwärters

Nr 187 | Juli 2015

gelesen von Simone Lambert

Der Roman beginnt mit der Anreise der siebzehnjährigen Krabbe auf der Insel ihrer Kindheit, und er endet 245 Seiten später mit ihrer Abfahrt. Krabbe, eigentlich Elizabeth, die willensstarke Tochter von Murray McCrae, dem Leuchtturm­wärter, und seiner Frau Hannah, war drei Jahre fort und kehrt zurück mit ihrer kleinen Tochter Tatjana, einem stillen Rätsel in Rot. Krabbe kommt, um Abschied zu nehmen. – Und um sich der Erinnerung zu stellen und sich von ihr zu befreien. Denn Alastair, ihr Bruder, ist vor vier Jahren ertrunken. Was geschah?
Lizzie Island, der Schauplatz dieses Romans von Iain Lawrence, ist ein paradiesischer Ort vor der kanadischen Küste, scheinbar außerhalb der Zeit. Die Natur zeigt sich eindrucksvoll, wild, wunderschön und unbesiegbar.
Murray hat Lizzie Island seit Jahrzehnten nicht verlassen. Er hütet das Licht und bewacht obsessiv den perfekten Rasen, während das Meer tobt, Schiffbrüchige ertrinken und Monster an die Ober­fläche kommen. Murray hat auf der Insel eine Nische für seine Resignation gefunden; sein Vater starb am Kohlenstaub und sein Bruder blieb im Berg. Er unterrichtet seine Kinder selbst, doch vor einem Thema fürchtet er sich mindestens genauso wie davor, eines Tages die Insel verlassen zu müssen: Sexualität.
Für Alastair und Krabbe hat sich das Paradies der Kindheit mit Beginn der Pubertät in eine Hölle verwandelt. Während Krabbe direkt und ehrlich reagiert, fühlt sich Alastair, dessen Sehkraft sich dramatisch verschlechtert – was ihn panisch macht, von Murray aber ignoriert wird –, von den Erwartungen seines Vaters erdrückt, der ihn als seinen Nachfolger auf dem Leuchtturm sieht. Alastair erforscht die Sprache der Buckelwale, die vor der Insel schwimmen, er will studieren, und er zieht sich umso mehr zurück, als er sich vom Vater nicht gesehen fühlt. Dann erscheint eines Tages ein junger Bootsfahrer, der «Wikinger», am Strand; er verführt die dreizehnjährige Krabbe und verschwindet. Krabbe wird schwanger. Doch welche Rolle spielte dabei Alastair, der sich in Krabbe verliebt hatte? Krabbe schweigt darüber. Und dem Leser erscheint ein beunruhigendes Rätsel.
Es gilt, Missverständnisse aufzulösen. Murrays Grundsätze, seine Strenge und Disziplin, sein Anspruch, die Kinder zu eigenständigen Erwachsenen zu erziehen, wirkten auf den verletzlichen Sohn gleichgültig und lieblos: «Das Beste, was Eltern für ein Kind tun können, ist … gar nichts» – lautete das Credo seiner Vaterschaft.
Die Tochter des Leuchtturmwärters ist ein Erinnerungsroman. Iain Lawrence verflicht mit großer gestalterischer Kraft Bruchstücke der Vergangenheit mit der schmerzlich-sensiblen Gegenwart, entschlüsselt die Familiengeheimnisse mit sich steigernder Spannung und dem geschickten Gebrauch von Symbolen. Es sind Dinge, mit denen er die Vergangenheit auferstehen lässt: das Ruderboot mit dem Glasboden, das tief ins Meer blicken lässt, das kleine Haus, in dem Alastair wohnte, seine Tagebücher, die Krabbe unter Dielen versteckt findet, die Tiere, die ihm zugeneigt waren wie jetzt Tatjana. Die fassbare, sinnliche Welt macht Erklärungen überflüssig.
Dieser Roman ist eine intensive Erfahrung, die der Leser nicht vergisst. Mit erwachsenen Charakteren, die ebenso im Gedächtnis bleiben wie die Teenager. Und einer Sprache, die in ihrer Schönheit der von Lizzie Island gleich­kommt: sie ist gewaltig.