Die Kunst des Wartens

Nr 188 | August 2015

Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Es ist eine feine Balance, die gar nicht so einfach zu halten ist: alles im Voraus planen und nichts dem Zufall oder der Willkür überlassen zu wollen – oder gar nicht mit dem eigenen Willen das Leben selbst zu gestalten, sondern nur abzuwarten, was die Welt von mir will. Was auf die Eltern von Max Moor, des späteren scharfen und begeisternden Beobachters des Kulturlebens, nach der Schule nur wie ein Herumlümmeln und Herumhängen wirkte, war für ihn die Gelegen­heit, eine ganz unerwartete Richtung im eigenen Leben zu entdecken: das Schauspielstudium. Und ebenso führte die von manchen belächelte «Planlosigkeit» der Wiener Goetheanistischen Studienstätte zu einer unverhofften schöpferischen Zusammenarbeit von Kunst und Wirtschaft. Wie Matthias Reichert, der entschiedene Mitbegründer der künstlerischen, auf ihre Autonomie bedachten Studienstätte, in unserer Reportage zusammenfasst: «Es gehört irgendwie auch zur Studienstätte dazu, dass wir keine Pläne am runden Tisch machen, was wir in der Welt bewirken wollen, sondern dass wir die Geduld haben, auf die Fragen zu warten, die aus der Welt auf uns zukommen.»
Wie ein Mensch wartet, kann unendlich viel bedeuten – für ihn selbst, aber ebenso für die Welt.
Das lässt mich an Ausführungen Rudolf Steiners denken, die er anlässlich einer Reihe von Exkursen zum Markusevangelium 1911 in Berlin hielt. Am 7. März 1911 nämlich weist er auf einige Beob­achtungen hin, die er im Umgang mit Ideen und Einfällen machen konnte: Allzu oft neigen wir dazu, eine Idee sogleich nach deren Einfall mitteilen zu wollen, statt abzuwarten und mit zu beobachten, wie sie sich – falls es sich um eine «kleine Idee» handelt – über vier Stufen und eine zeit­liche Folge von viermal sieben Tage verwandelt. Dann könnten wir beobachten, wie eine Idee für die Welt heranreift, «sodass wir das, was wir erst geboren und von den Göttern haben taufen lassen, nun der Welt übergeben dürfen als unser eigenes». Für größere Ideen ergäben sich längere Zeiträume der Aufmerksamkeit für ihr inneres Reifwerden für die Welt: viermal sieben Wochen oder gar viermal sieben Jahre. Ein solches Warten ist eine Kunst und muss gekonnt sein. Es kann aber auch geübt und gelernt werden. Und wie die Geisteswissenschaftlerin Ruth Ewertowski in ihrer Einleitung zu den Ausführungen Rudolf Steiners vom 7. März 1911 zuvorderst bemerkt: «Die Kunst des Wartens ist eine Kunst des Ich.»*

Mögen wir alle, wie und wo und wann es sich ergibt, erfüllte Zeiten des Wartens erleben!
Von Herzen grüßt Sie, Ihr

Jean-Claude Lin