Christian Hillengaß

Lindy Hop

Nr 189 | September 2015

Glück in Bauch und Beinen

Vor den Fensterscheiben des Cafés wiegen sich die Bäume. Ein erster kalter Wind macht sich daran, den Sommer aus der Stadt zu fegen. Auch wenn noch nicht einmal der Herbst ganz da ist, streift mich eine sachte Vorahnung des Winters. Oder ist es eine Erinnerung an den letzten? Bei einem Schluck Kaffee träume ich mich zum Fenster hinaus, die Straßen hinunter. Ein paar Ecken weiter befindet sich die Rosenau, eine Lokalität im Stuttgarter Westen, an der mein Gedankenflug langsamer wird. Irgendwo in mir beginnt ein flotter Jazz zu klingen, der meine Knie zum Wippen bringt. Wie damals, als ich an einem dunklen Winterabend fröstelnd aus dem Auto stieg und mich der Leuchtschrift über dem Eingang näherte, von wo die Musik leise auf die Straße drang. Ich höre FrankyDoo’s Worte wieder: «Im familienduseligen Vor­weih­nachts­rausch stolpern wir, hypnotisiert von zwei durchdringenden Fettaugen auf der winterlichen Suppe, in einen Zauberwald aus dichten Akkorden und seltsam glänzender Dunkelheit. Die Stimme Karolina Trybalas lockt uns mit ihrem Sirenenzauber in ein tanzendes Labyrinth aus plötzlichen Richtungs­wechseln, unvorhersehbarer Komik und vibrierender Wärme. Der Jazz gibt den Puls und der wird vorangetrieben von den Jazzmadame All Stars, die an diesem Abend die weit gereiste Gastsängerin begleiten ...»
FrankyDoo, der als Conferencier alter Schule durch die Nacht führte, hatte nicht zu viel versprochen. An jenem kalten Abend im Dezember waren an die 140 Tanzende seiner Einladung gefolgt und hatten die Temperatur zu den Klängen einer Liveband in die Höhe getrieben. Und plötzlich bin ich wieder mittendrin. Draußen ist Winter. Drinnen ist Swing. Die Band gibt ihr Bestes, Karolina Trybala maunzt, Paare wirbeln umeinander, Damen in kurzen Kleidern biegen die Knie bis zum Anschlag und zurück, Herren schlurfen lässig ins Vergnügen – die Temperatur klettert noch mal um zwei Grad.
Nicht nur FrankyDoo hat sich in Schale geschmissen, auch seine Gäste sind stilvoll gekleidet. Hemden, Westen, Hüte, Federboas, Perlen, Charlestonkleidchen und aufwendig gelegte Frisuren, alles glänzt und wirbelt im Stil der Roaring Twenties, jener 1920er-Jahre, an deren Ende der Swing über den Atlantik in die Metropolen Europas schwappte und dort Kellerbars und Tanzpaläste flutete.

Das Epizentrum der Welle lag in den Schwarzenghettos der USA, ins­besondere im New Yorker Stadtteil Harlem, wo der ungebändigte Jazz der Afroamerikaner mit europäischen Klang- und Harmonie­vorstellungen zusammenprallte. Dabei sprang die Kraft des rauhen, improvisierenden und solodurchsetzten Jazz schwarzer Prägung auf große Tanzkapellen über, die ihn im Sinne der Orchester­disziplin allerdings durch notierte Arrangements zügelten und mit mehr Melo­die und Konstanz dem Verständnis weißer Ohren anpassten.
Ob nun schwarz oder weiß – das, was den Ohren da entgegen getragen, geblasen, gefetzt, gegrooved und geswingt wurde, war ein Jazz in ziemlich flottem Gewand: etwas glattgebügelt, aber immer noch verrucht genug – heiß, treibend, pulsierend, witzig, charmant und vor allem äußerst tanzbar! Big Bands wie die von Benny Goodman, Duke Ellington und Glen Miller schmetterten den Swing einem Tanzvolk in aller Welt vor die Füße, kleine Combos lockten mit Rhythmus und Humor aufs Parkett.
Es waren «jene Zeiten», so schrieb der tschechische Autor Josef Škvorecký über seine Jugend, «da der große Duke jenseits des großen Teiches die magische Formel geprägt hatte, in der eine Grund­wahrheit unseres Jahrhunderts zum Ausdruck kam: ‹It Don’t Mean A Thing If It Ain’t Got That Swing ...›.»
Aber bald auch «jene Zeiten, da die Soldaten mit ihren schnellen Panzerverbänden das Leben und die Freiheit von der Landkarte Europas radierten und wir vielleicht gerade darum so klar und deutlich erkannten, was an Sinn und Bedeutung, Geschmack und Aroma, Freude, Fluch und Segen in jener zauberischen Wirklichkeit steckte, die wir Jazz nannten».

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Für die Nationalsozialisten war der Jazz dagegen vor allem eines: «Negermusik», die aus dem Gleichschritt brachte. Insbesondere ärgerten sie sich über die «Swing-Jugend»: Jugendliche, die sich dem militärischen Einheitszwang von HJ und BDM entzogen, den Jazz auf ihr Grammophon und aufs Parkett legten und sich zum «Lottern» und «Hotten» in Parks, Cafés und Salons trafen. Die «Swing-Heinies», wie sie auch abschätzig bezeichnet wurden, nannten sich bald selbst so. Sie grüßten mit «Swing heil!» oder «Heil Hottler» und fielen durch britische Manieren und einen betont lässigen Kleidungsstil auf: zurückgegelte Haare, Horn­brille, Jimmy­hosen, den Regenschirm auch bei Sonnenschein dabei und das karierte Sakko immer ein paar Nummern zu groß. Die Mädchen schminkten sich zu Damen, trugen Parfüm, rauchten lange Zigaretten und scherten sich wenig um das uniformierte Kernseifenideal des Hitlermädchens. Vor allem Töchter und Söhne aus dem Hamburger Großbürgertum setzten diesen Trend, der aber bald auch in anderen Städten und Schichten lebte.
«Der gewohnte Jazztänzer geht und steht immer mit elastisch-gebeugtem Kniegelenk!», wird in einer Nazi-Akte akribisch vermerkt. Von einer Veranstaltung im Kaiserhof Altona berichtet ein HJ-Spitzel im Februar 1940: «Der Anblick der etwa 300 tanzenden Personen war verheerend. Kein Paar tanzte so, dass man das Tanzen noch einigermaßen als normal bezeichnen konnte. Es wurde in übelster und vollendetster Form geswingt.» Was sich heute eher amüsant liest, war damals bitterer Ernst. Bespitzelung und Schikanierung nahmen zu, Razzien und Verhaftungen folgten. 1942 befahl SS-Chef Heinrich Himmler: «Alle Rädelsführer, und zwar die Rädelsführer männlicher und weiblicher Art, unter den Lehrern diejenigen, die feindlich eingestellt sind und die Swing-Jugend unterstützen, sind in ein Konzentrations­lager einzuweisen. Dort muss die Jugend zunächst einmal Prügel bekommen und dann in schärfster Form exerziert und zur Arbeit angehalten werden.» Die Durchsetzung des Befehls und das Fortschreiten des Krieges sorgten dafür, dass der Jazz nur noch leise über die Wellen der «Feindsender» ins «Reich» drang oder heimlich auf privaten Partys gespielt wurde. Wer weitertanzen wollte, brauchte Mut oder eine gute Portion Leichtsinn.

Zeitsprung, Luftsprung: Günes landet wieder auf ihren Füßen, nachdem Marcus sie in einem Salto durch die Luft gewirbelt hat. Kess streckt sie den Arm aus, verdreht lustig die Augen und «swivelt» in ausladenden Schritten auf ihn zu, bevor sie wieder wie ein Jojo von ihm weg und zurück schnürt. In der Rosenau ist die Temperatur weiter geklettert. Irgendwo in der bunten, schwitzenden Menge kichert, quietscht und gluckst es. Anika Kopfüber und Thomas fegen mit einem Wippen herum, als hätten sie Gummibälle verschluckt, die der Takt der Musik auf und nieder drückt – der perfekte «Bounce». Sie haben den «Lindy Hop» in den Beinen, im Po, im ganzen Leib. Den «Lindy was»?

Noch mal Zeitsprung, Atlantiksprung: zurück ins Epizentrum, ins New York der späten 1920er-Jahre. In Harlem ist der Savoy-Ballroom der Ort für Musiker und Tänzer. Hier gilt keine Rassentrennung, hier wird der «neue Swing» rauf und runter gespielt – und hier entwickelt sich ein ganz besonderer Tanzstil. Als Charles Lindbergh 1927 den Atlantik im Non-Stop-Flug überquert, titeln die New Yorker Zeitungen die Sensation: «Lindy hops the Atlantic». Der Legende nach wird an diesem Tag der begnadete Tänzer Shorty George Snowden nach ein paar spektakulären Hüpfern von einem Reporter gefragt, was er denn da tanze. «I’m doing the Lindy Hop», war die spontane Antwort.
Über zwei Jahrzehnte erlebte der Lindy Hop einen Höhenflug. Shorty George Snowden und sein ebenso legendärer Kollege Frankie Manning konnten ihre Leidenschaft – wie manch andere Hopper – zum Beruf machen, lebten vom Ruhm und zahlreichen Engagements. Dann, in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, ebbte die Swingwelle ab. Rock ’n’ Roll und Boogie spielten und tanzten sich in den Vordergrund. Manning musste seine Tänzer­karriere aufgeben und einen Job bei der Post annehmen. Einund­dreißig Jahre arbeitet er dort, als er 1986 einen Anruf erhielt: «Are you Frankie Manning, the Swing-Dancer?» – «No, I am Frankie Manning, the Postman», soll die bescheidene Antwort gelautet haben. Eine Gruppe aus Schweden, die sich den Lindy Hop aus alten Filmen abschaute, hatte ihn ausfindig gemacht. Mit seinen 72 Jahren kam er ihrer Bitte nach, sie zu unterrichten, ging bei der Post in den Ruhestand und tanzte in den folgenden zwanzig Jahren nicht nur nach Schweden, sondern über die ganze Welt, um einer stetig wachsenden Fangemeinde den Lindy beizubringen.
Das Revival, das er und die Schweden anstießen, verbreitete sich wie ein fröhlicher Virus. Heute kann man zum Tanzen nach Paris, Budapest, Karlsruhe, Krakau, New York, Simferopol, Stuttgart Peking, Moskau oder sonstwohin reisen. Wer den Lindy lernt, lernt auch eine Sprache, mit der man zu den schönsten Unter­haltungen fähig ist – nah und lebendig, ganz unabhängig von Landessprachen. Als ich für eine Reportage nach Sarajevo reiste und abends allein durch die unbekannte Stadt streifte, fand ich eine Bar, in der ein paar Studenten Swing tanzten. Während unsere Köpfe noch nach englischen Vokabeln suchten, um eine Kon­versation einzuleiten, begannen unsere Körper schon zu tanzen. Wir verstanden uns auf diese Weise bestens – es war ein sehr herzliches Willkommen.

Zum ersten Mal ist mir der Lindy an einem Frühlingstag in Freiburg begegnet, wo eine bunte Schar auf der Straße tanzte. So lustig und lebensfroh, dass ich sehr lange dastand und zusah. Es war ein Gefühl, als würde mir jemand einen charmanten Witz nach dem anderen ins Ohr flüstern und mich in eine fröhliche Welt aus Schönheit und Leichtigkeit entführen. Meine ganze Seele schmunzelte. Das wollte ich auch lernen. Und was ich schon beim Zuschauen fühlte, bestätigte sich beim Ausprobieren: Es macht sehr, sehr glücklich. Darin sind sich wohl alle einig, die es tun. Egal, in welcher Stim­mung man zum Tanzen kommt, man geht fröhlicher wieder nach Hause. So auch in jener Winternacht in Stuttgart, als ich am frühen Morgen wieder auf die Straße trat. Neben mir stand eine Tänzerin mit roten Wangen und demselben Glück im Blick, das ich auch fühlte. «Warum sollte ich noch in Diskotheken gehen, wo jeder für sich allein zappelt und die Musik nur mit Drogen schön klingt? So einen warmen Zauber erlebe ich woanders kaum mehr», meinte sie. Ja, so ein Zauber ...
Ich schrecke auf, als die Kellnerin neben mir steht und fragt, ob ich noch einen Wunsch habe. Draußen ist es schon fast dunkel, Regenschlieren hängen an der Scheibe. Ich bestelle die Rechnung, trete vor die Tür und schlage den Kragen meines Mantels hoch. Ja, der Winter wird unweigerlich kommen. Aber wenn er zu kalt und zu dunkel wird, tanzen wir einfach.