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Tove Jansson

Die Tochter des Bildhauers

Nr 190 | Oktober 2015

gelesen von Simone Lambert

Die Malerin Tove Jansson ist als Autorin der Mumin-Bücher weltberühmt geworden. Ihre Geschichten um die Familie der Mumintrolle erzählen von Geborgenheit ebenso wie von Chaos und Abenteuer. «Alles ist sehr ungewiss, und das finde ich beruhigend», sagt in Winter im Mumintal Too-ticki zu Mumin.
Eine überraschend stabile Balance zwischen Abgrund und Ge­borgen­heit findet der Leser auch in ihrem «Erinnerungsbuch» Die Tochter des Bildhauers, in dem Tove Jansson Episoden ihrer Kindheit in einer Künstlerfamilie beschreibt. Etwa sechs oder sieben Jahre alt ist die Ich-Erzählerin in diesen kurzen Geschichten. Vom Sommer an der Küste bis zum Weihnachtsfest im Atelier in der Stadt haben in diesem Roman Begegnungen mit Menschen, kleine Abenteuer, in denen die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen, und intensive Erlebnisse von Sonne, Sturm und Schnee Platz.
Die Enkelin eines Pfarrers lässt keinen Zweifel daran, dass im Haus ihrer Kindheit die Kunst der Gott ist; den Künstlerblick der Eltern hat das Kind bereits verinnerlicht. Die ungebetene, verständnislose Begleiterin des Geologen Jeremiah, der sommers das Lotsen­häuschen an der Küste bewohnt, verdirbt das kunstvolle Spiel zwischen der kleinen Tove und ihrem großen Freund und muss sich von dem Kind beschimpfen lassen: «Amateur! Du bist ein Amateur! Du bist nicht echt!». Und die künstlerisch dilettierende Tante wird mit Entsetzen und Erstaunen betrachtet – dies bringt die Erzählerin aber zu klugen Differenzierungen über Schönheit und Kunst.
Die präzisen Beobachtungen des Kindes, das nicht immer versteht, was es da so genau wahrnimmt, verbinden sich mit seinen Fantasien zu einem reichen Innenleben. Ein liebevoller, trockener Humor durchzieht dieses Stück Poesie und zeugt von der Fähigkeit der Erzählerin, über sich selbst zu lachen, ohne dabei das Kind, das sie war, auszulachen.
Es ist ein selbstbewusstes, starkes und eigenwilliges Mädchen, von dem Tove Jansson da erzählt, dem die Eltern viele Freiheiten lassen. Die Beziehung zur Mutter, die als Illustratorin wohl den Lebens­unterhalt der Familie bestritt, ist innig und liebevoll. Bei ihr ist das Kind vollkommen geborgen. Als sie sich zum Arbeiten mitten im Winter mit ihrer Tochter in ein Haus auf dem Land zurückzieht und der Schnee sie bis zum Dach begräbt, ist die Tochter verstimmt und sogar verstört. Ihre Untergangsfantasien wendet die Mutter, indem sie mitspielt und mit einer neuen Fantasie die Spannung löst.
Der Bildhauer-Vater wird verehrt, als Künstler und als spontaner, lebensfroher Mensch, dessen nächtliche Feste im Atelier für die Familie jedoch auch belastend gewesen sein müssen. Er erscheint rätselhaft und emotional wenig zugewandt. Eifersüchtig beobachtet die rötelkranke Tochter, wie sich der Vater während der Arbeit mit seinem Äffchen amüsiert, selbst als dieses seine Skulpturen zerstört. Ihre kindliche Rachsucht kann der Vater entkräften. Zwar versteht sie nicht, was im Vater vorgeht, aber am «besten, man denkt nicht allzu viel nach, sondern bringt alles mit einer guten Tat wieder in Ordnung.»
Wie Rituale werden diese Erinnerungen geschildert, Rituale einer eng verbundenen Familie. Tove Jansson ist aus ihr als große Malerin und Autorin hervorgegangen, die ihre Eltern überflügelt hat. Nicht zuletzt mit diesem literarischen Kleinod.