Birte Müller

Die Alten

Nr 191 | November 2015

Immer wieder stolpere ich in letzter Zeit darüber, dass man über «die Alten» als das neue Problem unserer Gesellschaft spricht. Dabei kann es ja höchstens sein, dass unser Umgang mit «den Alten» ein Problem ist – nicht sie selbst! Pauschal über eine ganze Generation zu sagen, sie wäre (oder werde) eine Belastung für unsere Gesell­schaft, regt mich auf. Außerdem: Wer soll «die Alten» eigentlich sein?
Meine Eltern sind beide über 70 Jahre. Sie gehören sicher zu den Alten – mir kommen sie aber gar nicht alt vor. Sie sind weniger spießig als wir selbst und ENTlasten uns, wo immer sie können, genau wie meine Schwiegermutter! Es wäre absolut undenkbar für mich gewesen, ohne ihre Hilfe in den letzten Jahren berufstätig zu sein. Überall in meinem Umkreis sehe ich, dass diejenigen jungen Familien, die fitte Eltern in der Nähe haben, in der glücklichen Situation sind, viel flexibler, mehr oder überhaupt zu arbeiten. Gibt es darüber mal eine Studie, wie sehr unsere Volkswirtschaft von den vielen Großeltern profitiert, die sich liebevoll um ihre Enkel kümmern? Ich sehe jede Menge Rentner, die ihre Enkelkinder in Kitas abholen. In den Ferien gehen sie mit ihnen zelten, sie machen Ausflüge, lesen stundenlang vor, begleiten zum Sport und Musik­unterricht (den sie oft auch noch bezahlen) – und all das, obwohl sie eigentlich gar keine Zeit haben!
Unsere Eltern sind immer beschäftigt, aber auch immer bereit, alles abzusagen, wenn wir sie dringend brauchen. Sie sind eine unvorstellbare Ressource an Wissen (und Besserwissen), und zusätzlich kurbeln sie ungemein die Wirtschaft an. Ich wette, mindestens ein Prozentpunkt Umsatz im deutschen Spielzeug-Einzelhandel ist ganz allein auf meine Schwiegermutter zurückzuführen. Aber im Ernst: Warum hat meine Schwiegermutter noch keinen Orden bekommen? Sie hilft regelmäßig bei uns und ihrem anderen Enkel­kind, hat ihren Mann zu Hause bis zu seinem Tod liebevoll gepflegt und kümmert sich seit vielen Jahren um ihre demente Mutter. Die Zustände, die sie vom Pflegeheim erzählt, sind einfach nur traurig. Warum gibt es denn in Deutschland keine «Rentner-Schutz-Vereine» oder Zusammenschlüsse von «Oma-und-Opa-Freunden»? Dann würde es in den Pflege­heimen sicher auch anders aussehen – oder Demos geben.
Ich denke, dass keine gesetzliche Regelung und keine Versicherung das wird leisten können, was benötigt wird: menschliche Zu­wendung, Zeit und Liebe. Das ist einfach nicht bezahlbar. Letzten Endes sind wir alle gefragt, damit die alternde Gesellschaft nicht zum Problem wird – jeder Einzelne von uns. «Inklusion», das schließt alle Menschen in unserer Gesellschaft ein – nicht nur Menschen mit Beeinträchtigungen oder Flüchtlinge. In einer inklusiven Gesellschaft wird man niemals abends im Supermarkt etwas hören wie «die Rentner können doch den ganzen Tag einkaufen» und kein Geschichtsstudent wird herumjammern, weil die Alten im Hörsaal ihm angeblich den Plätz wegnehmen.
Ich sorge mich tatsächlich darum, was sein wird, wenn meine ge­hetzte Generation der Egoisten und Selbstverwirklicher an dem Punkt sein wird, dass wir für unsere Eltern da sein müssen. Die «überalterte» Gesellschaft könnte dann aber auch unsere Chance werden, endlich diese Ichbezogenheit loszuwerden und zu sehen, worauf es im Leben ankommt. Ich bete, dass ich an dem Tag, an dem unsere Eltern uns brauchen, die Möglichkeit haben werde, für sie da zu sein. Bis dahin möchte ich ihn hier wenigstens verbal verteilen, den Orden an all die Alten, die sich in Ehrenämtern, Nachbarschaftshilfen und Familien engagieren und sich dafür auch noch als potenzieller Kostenfaktor im Gesundheitssystem bezeichnen lassen müssen: DANKE!