Claus-Peter Lieckfeld (Text) & Andrea Künzig (Fotos)

Großväterchen Pope

Nr 192 | Dezember 2015

Pater Ivan, der beliebteste Bulgare der Gegenwart, Retter der Entwurzelten und Obdachlosen, wäre fast auf der Strecke geblieben. Aber die Hoffnung ist zuletzt doch nicht gestorben. Eine Vorweihnachtsgeschichte.

«Hey, Mirko, wo steckst du? Geh mal eben auf’n Hügel, damit ich dich von der Brücke aus sehen kann!» – Die Anordnung geht über Handy raus. Und sie gilt einem Mann, der einer kleinen Schafherde durch die buckelige Allmende von Jakimowo folgt.
Nicht, dass ein bettelarmer bulgarischer Teilzeitschäfer ein Handy hat – noch dazu in der ärmsten Gegend des ärmsten EU-Landes –, ist sonderlich bemerkenswert. Schon eher etwas anderes: Schäfer Mirko ist Bulgare, und Vlado, der Mann, der ihn und den Standort der Herde kontrolliert, Roma. Zigeuner. Angehöriger einer kopfstarken Minderheit, die in Bulgarien bestenfalls nur miss-, überlicherweise verachtet wird.
In ganz Bulgarien? Nein. Da ist ganz im Nordwesten dieses gar nicht mal so kleine Dorf zwischen Balkangebirge und Donau, wo Rassismus, die Beulenpest des 20. Jahrhunderts, kaum eine Haut befällt, weder weiße noch goldbronzedunkle, romafarbene.
Wir folgen Vlado, 43, ins Dorf, nachdem er Schäfer Mirko bestätigt hat, dass jener Teil der Dorfgemeinschaftsweide, durch die sich gerade ihre vierzig Schafe hindurchmümmeln, «do rekata» («bis zum Fluss») erlaubt ist. Das Flüsschen, das sich durch das mehrteilige Dorf Jakimovo schlängelt, heißt Tibriza, «kleiner Tiber». Womöglich ein Hinweis darauf, dass schon römische Kolonisten wussten, wie gut und ergiebig der Boden im Urstromtal der Donau ist. Hier und im weiten Umfeld waren mal die Kornkammern des Imperium Romanum und rund zweitausend Jahre später riesige LPGs des bulgarischen Sozialismus. Aber die Menschen, die das fruchtbare Land bebauten, wurden an den Ackerrand gedrängt.
Wir folgen Vlado in ein Geisterdorf. Hinter Pforten, die sich kaum noch in den Türangeln halten können, stehen Häuser, die von Nässe, Hitze und Frost langsam von den Fundamenten geschubst werden. In blinden Fensterhöhlen hängen Todesanzeigen mit Fotos von Menschen, die schon vor etlichen Jahren gestorben sind. Mehr, als gestorben sind, sind fortgezogen. Irgendwohin, meistens weit nach Norden. Nach dem Kollaps des bulgarischen Mangelsozialismus, der immerhin noch Landbevölkerung in riesigen Kollektivbetrieben beschäftigte, kollabierten die Dörfer. Jakimovo ist nur eines von ungezählt vielen in Bulgarien.

Ein von Rost angenagtes Vorfahrtschild steht auf verlorenem Posten; die ehemals dazugehörige Straße liegt unter Breitwegerich, Löwenzahn und Ackerdisteln. Viele Häuser – etliche zeigen Jahreszahlen aus der Zeit um die vorvorige Jahrhundert­wende unterm geschnitzten Giebel – sind wie alte Gesichter, unter deren Runzeln man noch Spuren von Jugendschönheit ahnen kann. Hier lebte man nicht in Saus und Braus, aber auskömmlich.
Und ums Auskommen geht es auch heute – wieder. Man würde die Keim­zellen der Wiederbelebung auch ohne Vlados Führung finden. Einfach nur schauen, wo weiße Farbe und frischer Putz die Wände bedecken und wo Kinderspielzeug in den kleinen Gemüsegärten liegt. Vlado, verantwortlich für 180 Neusiedler im zuvor fast entsiedelten Dorf, hat wieder das Handy am Ohr. Es geht um Holz, ohne das der kommende Winter unerträglich würde.
In einer Hauseinfahrt machen wir vor einem Siebener-BMW mit Ralleystreifen Halt – ganz aus einem Plastikguss und knapp einen Meter lang. Das Auto kam vor gut vier Jahren mit einem Hilfskonvoi aus Deutschland. Die jetzige Besitzerin, Ivanca, ist zweieinhalb und heißt nach einem Ivan, der hier mindestens so sehr verehrt wird wie die Heiligen auf den Ikonentafeln. Aber das weiß Ivanca noch nicht. Und schon gar nicht, dass Ivan um ein Haar von ihnen gegangen wäre.
Ivancas Mutter, 23, ist Roma und heißt Antonia, ihr Mann Tsetsko ist 21 und Bulgare. Tsetsko ist der Einzige seines Schuljahrgangs, der in Jakimowo geblieben ist. Und das wohl auch nur deshalb, weil Ivan ihm Antonia geschickt hat und ein Haus zum Wohnen überließ, nachdem es Leute aus dem Dorf ein wenig instand gesetzt hatten – auf Ivans Veranlassung und mit Spendengeldern, die es ohne Ivan nicht gegeben hätte. Und Pater Ivan, so sagt Tsetsko, hat ihnen für den Winter noch Holz und für das kleine Bade­zimmer Kacheln versprochen.
Tsetsko hat seinen Namen in feuchten Beton geschrieben, man überschreitet die Platte, bevor man sein Haus betritt. Tsetsko will bleiben. Wenn irgend möglich. Und irgend möglich heißt auch: Wenn es Pater Ivan möglich macht. Ohne Pater Ivan, den hier alle «Djado Pop» («Groß­väterchen Pope») nennen, geschehen keine Wunder. Zu­mindest keine nachhaltigen.
Das hat auch Tsetskos Frau erlebt, die mit vierzehn aus brutalen Familienverhältnissen geflohen war und in Pater Ivans Heim für Obdachlose Zu­flucht und Zuhause fand. «Ohne Djado Pop wäre ich verhungert oder erfroren», sagt sie, für die das große Haus in Novi Han – durch das Balkan­gebirge von Jakimovo getrennt – lebens-­rettend war.

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Fotos: © Andrea Künzig/laif | www.andreakuenzig.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

In Novi Han hat der orthodoxe Pater Ivan, 69, seit 1988 ein Heim für Notleidende aufgebaut und gegen eventuelle Angriffe verteidigt. Als die Anlieger, die keine Menschen von ganz unten und schon gar keine Roma in der Nachbarschaft wollten, alles Erdenkliche gegen das Heim in Stellung brachten – vor allem aber willfährige Lokalpolitiker –, «drohte» Ivan mit einer Kinder-Menschenkette rund um die bedrängte Insel. Sämtliche Fernsehstationen des Landes hatten schon ihre Kameralinsen geputzt. Die Ortspolitik versuchte es daraufhin noch mit Feuerschutz- und Hygieneauflagen und dem Vorwand, man müsse rechtschaffene Bürger gegen ruhestörende Männer schützen, die ihre verprügelten Ehefrauen aus Ivans Obhut zerren wollten. Ivan und seine 180 Mitbewohner blieben. Und immer wenn der Spendenstrom für den Unterhalt des Hauses abebbte, ging Pater Ivan in die Medien, wortgewaltig, humorvoll und mit großem Charisma.
Pater Ivan ist einer der wenigen Menschen, denen das Unmögliche in Serie gelingt: Er hat drei Jahre Beugehaft unter Schiwkows Kommunisten überlebt – ungebrochen. Er hat sich aus den Haltegriffen seiner eigenen Kirche, der bulgarisch-orthodoxen, befreit, die anfangs (das hat sich mittlerweile völlig geändert!) sein soziales Engagement missbilligte. Und er hat immer wieder den Absturz des Heims ins Elend verhindert – bis heute.
«Es darf nicht sein, dass wir ihn verlieren», sagt Antonia, und Vlado – Pater Ivans Statthalter im Aussiedlerdorf Jakimowo – unterbricht eines seiner Handytelefonate, um heftig zuzustimmen.
Pater Ivan ist «geflogen»: Bei 100 Stundenkilometern durch eine Windschutzscheibe. Dreifacher Oberschenkelbruch rechts, Rippenserienbruch mit erheblicher Verletzung der Lunge. Alle seine Kinder, alle von ihm Geretteten im Stammhaus von Novi Han, im Aussiedlerdorf Jakimovo und sonstwo, alle wissen alle Einzelheiten. Und wenn Fürbittengebete – wie bei den biblischen Brüdern Kain und Abel – Rauchsäulen bilden könnten, wäre mindestens ganz Westbulgarien zugeräuchert.
Es gibt ein beinahe unheimliches Detail, über das viel gewispert wird im südlichsten Balkanstaat: Als Pater Ivan in das Unglücksauto stieg, soll er geseufzt haben: «Die Spenden sinken, Monat für Monat, irgendwas muss passieren ...» – Und es passierte.

Seit die Meldung von Ivans Unfall durch die Medien ging, stehen die Spender Stoßstange an Stoßstange vor dem großen Tor des Heims in Novi Han. Das Grandhotel Sofia liefert zig Dutzende Tüten mit Edelpralienen der allerfeinsten Qualität. Ein Großhersteller von Gemüsekonserven sorgt mit regelmäßigen Bohnenlieferungen für die Eiweiß-Grundversorgung der 180 Bewohner. Ein ehemaliger Kapitän und seine Frau sind von Varna am Schwarzmeer 450 Kilometer und 11 Stunden lang durchs Schneetreiben gefahren – im Zickzack durch Barrikaden aus liegen gebliebenen LKWs –, um selbstgekaufte Lebensmittel anzuliefern. Und noch ehe die beiden Spender die Ladeklappe ihres Kombis öffnen, fragen sie: «Wie geht es ihm?» Auch in Jakimowo, zweieinhalb Autostunden entfernt, ist das die einzige nennenswerte Frage. Aber es gibt jemanden, der die Antwort weiß. Eine ziemlich gute sogar. Ivans Sohn Gregorij, 37, ebenfalls orthodoxer Geistlicher und Chef in Novi Han, seitdem sein Vater das Aussiedlerdorf ausbaut, ist unterwegs nach Jakimowo. Sein Auto hat eine Freisprechanlage. Vlado hat ihn am Telefon und wird augenblicklich zum Lautsprecher: «Es geht Großväterchen besser. Keine Lebens­gefahr mehr ...»
Das wird dem Dank- und Festessen, das für den späteren Nachmittag angesetzt ist, himmlische Würze verleihen. Pater Gregorij segnet vierzig Liter «Kurban» (bulgarisches Hammel-Kesselgulasch), die in drei Gulasch­kanonen sowjetischer Bauart vor der Kirche von Jakimowo aufgereiht stehen. Kurban ist die altehrwürdige Opferspeise. Beim Essen schaut Pater Gregorij – darin ganz Sohn seines Vaters – über den Tellerrand hinaus: «Wir müssen vom Spendentropf loskommen. Hier in Jakimovo muss es uns gelingen, eine Selbst­versorger-Landwirtschaft aufzubauen und nach Möglichkeit auch noch Überschüsse zu erwirtschaften, die wir verkaufen können.»

Das könnte schwer werden. Eine Milchproduktion für die Märkte der Um­gebung scheiterte bisher an EU-Vorschriften und an einer Joghurt-Weltmacht aus Frank­reich, die jedes Marktsegment füllt. Und das Dorf Jakimowo ist umzingelt von Großländereien eines Konzerns namens Oktopus (!). Der Konzern gehört einem einschlägig bekannten Politiker, der das Weichtier mit den vielen Greifarmen und Saugnäpfen gut als Wappentier führen könnte.
Bleibt als realistisches Ziel die Selbstversorgung von Jakimowo und Novi Han. Aber auch da gibt es eine aktuelle Bruchstelle. Man kann sie besichtigen. Vlado kutschiert uns durchs Dorf, vorbei an einem Dorf­gemeinschaftshaus, neben dem Pater Ivan eine Poliklinik entstehen lassen will, hin zu einem Grundstück, auf dem ein Veteran vergangener Erzeugerschlachten steht: ein russischer Traktor, der aussieht, als sei er kurz nach Ausbruch der Oktoberrevolution in Betrieb genommen worden. Aus seinem Bauch quellen rostige Eingeweide. Schwer vorstellbar, dass die betagte Maschine bis zur nächsten Aussaat wieder auf die Räder kommen wird. Und was dann?
«Djado Pop wird helfen», sagt Tsetsko, der Vater der kleinen BMW-Fahrerin. Tsetsko macht sich Hoffnung, hier eines Tages eine Werkstatt für Landmaschinen betreiben zu können. Aber dafür müsste …
Kein Aber! Die Armen müssten nicht. Sie müssen. Sie müssen irgendwann einfach mal das gute Ende erwischen. Oder wenigstens ein Stück davon.