Lydia Fechner

Was heißt hier frei?

Nr 192 | Dezember 2015

Freiheit – das große Los

Frei sein! Sobald wir diese Worte lesen oder innerlich vor uns hin sprechen, spüren wir, wie ein frischer Lufthauch durch die Seele zieht. Ja, wir möchten frei sein, und das heißt zunächst, sich ungebunden fühlen, sorgenfrei sein, ein Leben ohne Beschränkungen und Grenzen führen. Einfach alles tun und lassen können!
Die Werbung auf Plakaten und Werbespots spielt auf diese unbewusste Sehnsucht in uns an, indem sie tausendfach Bilder von in karibischem Blau dahinsegelnden jungen Schönheiten oder von lässigen Hipstern in Partystimmung entwirft. Wozu sonst hoffen Millionen auf den Lottogewinn, die Erbschaft, möchten das «große Los» ziehen, wie man so sagt? Dann könnten wir endlich, wie wir wirklich wollten …
Lassen wir diesen Gedanken einmal nicht hier, in der dünnen Luft der Vorstellung, abbrechen, sondern spinnen ihn weiter bis zum (bitteren) Ende: Der Lottogewinn ist da, die Tante aus Amerika hat uns ihr riesiges Vermögen vererbt – wir können alle Wünsche in die Tat umsetzen. Die Arbeit in der Behörde, im Supermarkt oder als Lehrer wird gekündigt; ein neues Haus oder eine schicke Wohnung erworben, das Traumauto steht vor der Tür. Die Reisen nach Südamerika und in die USA sind toll gewesen, jetzt noch Australien! Und dann? Man merkt sehr schnell: das nimmt kein Ende. Und: Sind wir jetzt frei?
Vor einigen Wochen unternahm ich mit meinem Mann eine kurze Städtereise in die Schwabenmetropole Stuttgart. Wir wollten bummeln und die urbane Atmosphäre genießen – schließlich wohnen wir seit Jahren auf dem Dorf. Stuttgart kennen wir ganz gut, die schönsten Geschäfte werden angesteuert, wir fräsen uns durch die Konsumtempel und machen ab und zu eine Erholungs­pause in einem Café. Ganz im Schauen, Anfassen, Begutachten gefangen, wie in einem Rausch gleiten wir so selbstvergessen durch die Menschenmassen.
Nach einiger Zeit stellt sich, zumindest bei mir, eine gewisse Er­schöpfung ein. Die Schritte suchen wie von selbst die ruhigeren Straßen auf – und plötzlich stehen wir, die Eberhardstraße durchschlendernd, gerade vor dem Hegelhaus.
Der 1770 geborene Georg Wilhelm Friedrich Hegel, einer der großen idealistischen Philosophen der westlichen Welt, wurde in diesem heute unscheinbaren Eckhaus geboren. Mir war bis dahin nicht klar, dass es ein Museum beherbergt. Wir treten ein und – seltsam – wir sind allein. Im mittleren Stockwerk ein Raum mit einer Marmorbüste Hegels. Ernst und gesammelt sein Gesichts­ausdruck. Im Kreis darum angeordnet Zitate aus seinem Werk. Ich setze mich auf einen Stuhl in der Ecke und beginne zu lesen. «In der Philosophie verlässt man allerdings den Boden des An­schauens, ihre Welt ist im Gedanken; es muss einem Hören und Sehen vergangen sein.»

Ja, Hören und Sehen sind mir vergangen in der Wüste des Kon­sums. Bin ich nun bereit für die Philosophie? Irgendwie schon, denn dieser Satz ergreift mich, ohne mich zu betäuben. Er macht mich wach. Hegel stellt hier keine Forderung auf. Er hätte formulieren können «... es muss einem Hören und Sehen vergehen». Nein, es muss einem bereits vergangen sein, das bedeutet, der Philosoph, wenn er wirklich philosophiert, ist an einem Punkt angelangt, wo ihm das Anschauen der äußeren Welt nicht mehr das Wesentliche ist. Er sucht daher natürlicherweise in der Welt der Gedanken seinen Lebens- und Erkenntnisquell.
«Die Geschichte ist nicht der Boden für das Glück. Die Zeiten des Glücks sind in ihr leere Blätter.» Dieser Satz ist eine vielleicht noch größere Provokation für uns moderne Menschen als die Ab­wendung von der sinnlichen Welt. Sehnen wir uns nicht alle ständig nach Glück? Ist das Streben nach Glück nicht der Inbegriff des modernen westlichen Lebensgefühls, mit dem wir uns alle identifizieren? – Und hier behauptet ein Philosoph, darum gehe es gar nicht in der Weltgeschichte! Er kann ja wohl nicht meinen, es mache einen Sinn in der Welt, Kriege zu führen und Macht auszuüben, das Glück des Einzelnen sei bedeutungslos. – Ein drittes Zitat hilft mir weiter: «Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit.» Also nicht Glück, sondern das Bewusstsein von Freiheit treibt, aus Hegels Sicht, die Weltgeschichte an. Das hieße ja, die Menschen wären nicht zufrieden mit ihrem Leben, wenn sie einerseits zwar glücklich, aber doch unfrei lebten? Widerspricht sich das nicht?

Die Geräusche der Innenstadt entfernen sich weiter von mir und verstummen endlich ganz. Dort auf dem Stuhl sitzend, glaube ich allmählich zu verstehen, was der Philosoph meinte. Eine bestimmte Art des Glücks wirkt betäubend, sie lässt die Welt um mich herum versinken, die Natur, die anderen Menschen und alles, was lebt und atmet.
Solange wir uns als Homo Oeconomicus benehmen, dem kapitalistischen Menschenbild gemäß, nach welchem wir ausschließlich aus rationalem Eigennutz handeln, solange dienen wir nur uns selbst und dem, was uns unsere Wünsche vorgaukeln. Wahre Freiheit besteht aber in einem ersten Schritt darin, das zu erkennen und sich davon zu befreien. Und dann darin, den nächsten Schritt zu tun, nämlich die Eigeninteressen zurückzustellen und sich der Welt wirklich zuzuwenden. Wahres Glück tritt nämlich genau dann ein, wenn ich plötzlich ganz außer mir bin und verstehe, was ich zu tun habe im Hier und Jetzt. Und wenn es nur das Geldstück ist, das ich dem Obdachlosen gebe – nicht, weil mein Gewissen es verlangt oder sonst eine von wem auch immer vorgeschriebene Moral, sondern weil ich in diesem Moment ahne, was er erlebt, und weil ich meine Beziehung zu ihm bewusst wahrnehme – und gestalte. Die Geldspende ist ein Ausdruck dessen, was sich real ereignet, keine Los­sprechung von irgendeiner Schuld oder eine Einlage auf mein «Gutmenschenkonto». Freiheit und Glück fallen dann in eins, aber nicht, weil ich glücklich sein will, sondern weil mein Leben in diesem Moment Sinn macht. Ich glaube, Hegel ging es um den Sinn des menschlichen Lebens, der nur in der freien Handlung sich gänzlich erfüllt. Das persönliche Glück ist dabei nebensächlich – stellt sich auf einer höheren Ebene ein.
Noch immer auf dem Stuhl in der Ecke sitzend, wird mir jetzt klar, warum wir diesen Ausflug in die Stadt gemacht haben. Vielleicht wären mir diese Gedanken nicht so deutlich geworden, wenn ich nicht den Kontrast des flimmernden Rausches erlebt hätte, den Geschäfte und hetzende Menschenmassen erzeugt hatten. Nun war ich im Rausch der Freiheit. Ja, Freiheit ist eine Ekstase, ein Außer-sich-Sein, das uns wach mit der Welt verbindet. – Übrigens: Der Eintritt ins Hegelhaus ist frei.*