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Jean-Claude Lin

Peter Carter. Eine Stimme im Ohr

Nr 193 | Januar 2016

«Peter Carter war ein brillanter und tiefgründiger Jugendbuchautor», schrieb Elizabeth Hodgkin in ihrem Nachruf auf den vor bald siebzehn Jahren am 21. Juli 1999 verstorbenen anglo-irischen Autor in der britischen Tageszeitung The Independent. Ich hatte leider nicht das Glück, Peter Carter zu be­suchen, in seine sanften, doch prüfenden wie auch schelmischen Augen zu schauen. Aber den Tonfall seiner Stimme habe ich lesend wie auch am Telefon zuhörend kennen und lieben gelernt.
Als er im Sommer 1999 starb, war einige Monate vorher sein großer «Western» Abschied von Cheyenne, der 1998 im Verlag Freies Geistesleben erschienen war, für den Deutschen Jugend­literaturpreis nominiert worden. Der am 13. August 1929 ge­borene Peter Carter konnte allerdings dann doch nicht mehr für den Preis berücksichtigt werden, da dieser nur dem Werk eines lebenden Autors verliehen wird. Ich hatte aber im Zuge der Nominierung wie auch des nahenden 70. Geburtstag des Öfteren mit ihm telefoniert. So hatte ich seine warme, anteilnehmende und engagierte Stimme im Ohr. Und mehr noch – ich hatte seine Stimme, wie ich sie in den drei zuvor wieder bzw. erstmalig auf Deutsch erschienenen Romanen kennen und schätzen gelernt: in Die Sentinel über die Sklavenschmuggler im Jahr 1840, in Kinder des Buches über die Belagerung Wiens durch die Heere des Osmanischen Reichs im Jahr 1683, wie auch in Gejagt über die denkwürdige und atemberaubende Flucht eines einfachen italienischen Soldaten mit einem jüdischen Jungen vor den Nazis und der französischen Geheimpolizei im Herbst des Jahres 1943.
Vor allem aber hatte ich die Stimme im Ohr, die Peter Carter dem jungen Ben Curtis in Abschied von Cheyenne verliehen hatte. Kaum je zuvor war mir die Sprache einer Romanfigur wochenlang nach der Lektüre so intensiv in Klang und Rhythmus im Ohr geblieben wie jene von Ben.
Als im Jahr 2000 Peter Carters Erstlingsroman Madatan postum erschien, konnten die Leserinnen und Leser erfahren, dass diese Geschichte von einem Jungen aus dem achten Jahrhundert, der von Wikingern verschleppt und versklavt wird, und später, als er nach England gelangt und lesen lernt, die Weite der Welt und die Freiheit entdeckt, ein in vieler Hinsicht autobiografischer Roman ist. In seinem im August 1986 für eine Neuausgabe von Madatan geschriebenen Nachwort hebt Peter Carter einen roten Faden seiner schriftstellerischen Tätig­keit hervor: Er habe immer gegen den Fatalismus geschrieben. Der Mensch unterliege nicht einem vorbestimmten detaillierten Plan seines Lebens. Er habe in den allerschwierigsten Situationen auch die Möglichkeit, sich zu erheben, seinem Leben selbst eine eigene Prägung und Wendung zu geben.
Peggy Morgan von der Universität Oxford hat einmal sehr eindrücklich die Kunst Peter Carters charakterisiert: «Die Ideen, Situationen und Charaktere, die ihn interessieren, sind jene Grenzfälle, bei denen die äußeren, konventionellen Muster von Freiheit und Gerechtigkeit, Recht und Unrecht, Gut und Böse, von Individuum und Gesellschaft, Gnade und Verdammung von einer prophetischen und zutiefst persönlichen Stimme vorgestellt, beleuchtet und hinterfragt werden. Carter hat ein spezielles Interesse an Religions- und Sozialgeschichte, und er besitzt die Fähigkeit, Themen in ihrer tieferen Dimension zu behandeln; dadurch können sie höchsten geistigen Rang beanspruchen.»
So ist Peter Carter heute noch – und gegenwärtig be­sonders – ein Autor, dessen Stimme gehört werden sollte.