Um eine Unendlichkeit erweitert

Nr 194 | Februar 2016

Manche Ordnung ist zuweilen doch noch zu entdecken, wo sie zu fehlen scheint. Als John Heminges und Henry Condells, die Schauspielerkollegen William Shakespeares vom führenden Londoner Theater der «King’s Men», 1623, sieben Jahre nach dem Tod ihres Freundes, die erste Gesamtausgabe seiner Theater­stücke schließlich fertiggestellt hatten, lautete der Titel: Mr. WILLIAM SHAKESPEARE’S COMEDIES, HISTORIES, & TRAGEDIES.
Der große Folio-Band mit 908 Seiten enthielt 36 Dramen: 14 «Komödien», 10 «Historien» und 12 «Tragödien», die «innerhalb dieser drei Kategorien willkürlich geordnet wurden», wie so oft bemerkt wird, außer dass die Königsdramen chronologisch nach den Titelhelden angeordnet sind. Doch das erste Stück in dieser ersten Gesamtausgabe, Der Sturm, ist zugleich das letzte, das Shakespeare alleine schrieb. Oft wird es zusammen mit Das Wintermärchen, dem letzten, ebenfalls späten Stück, unter den Komödien als «Romanze» und uneigentliche Komödie gesehen. Dazwischen hätten wir also 12 Komödien, beginnend mit Die zwei Herren aus Verona und Die lustigen Weiber von Windsor und endend mit Ende gut, alles gut und Zwölfte Nacht oder Was ihr wollt.
Ganz willkürlich scheinen die Freunde des größten Bühnendichters der Welt also nicht vorgegangen zu sein, wenn Was ihr wollt so als zwölfte eigentliche Komödie gesehen werden kann. Mit dem Eröffnungsdrama hat es aber auch eine besondere Bewandtnis: Hier lässt Shakespeare den mit seiner Tochter Miranda auf eine einsame Insel verbannten Zauberer und ehemals rechtmäßigen Herzog von Mailand, Prospero, sich von seiner über viele Jahre des Studiums angeeigneten und ausgeübten «starken Kunst» des Zauberns lossagen: «Auf mein Geheiß / Weckten die Gräber ihre Schläfer, klafften, / Ließen sie los durch meine starke Kunst. / Doch diesem rohen Zauber schwör ich ab.* – But this rough magic I here abjure.» Und wenn es im Epilog, gesprochen von Prospero, heißt: «Ab tat ich alle Zaubereien / Und was an Kraft ich hab, ist mein», haben viele Zuschauer und Kenner darin einen bewegenden Abschied Shakespeares von seiner Tätigkeit als Dramatiker empfunden. Ist es also wirklich ein Zufall, dass seine Freunde gerade mit diesem Stück die erste Gesamtausgabe eröffneten?
Prosperos Magie mag in der Tat roh oder grob oder rauh gewesen sein. Shakespeares Magie dagegen wirkt bisweilen heute noch wie bei Goethe, der «zum Shäkespears Tag» 1771 erklärte: «Wie ich mit dem ersten Stücke von ihm fertig war, stand ich wie ein Blindgeborener, dem eine Wunderhand das Gesicht in einem Augenblick schenkt. Ich erkannte, ich fühlte aufs Lebhafteste meine Existenz um eine Unendlichkeit erweitert.»
Shakespeares Dramen verzaubern uns weiterhin, lassen unsere Humanität tief und weit erfühlen. Mit seinen Komödien wollen wir, wie in der Januar-Ausgabe bereits begonnen, das Jahr 2016, vierhundert Jahre nach seinem Tod im Jahr 1616, heiter begehen und weiter kommen.

Von Herzen grüßt Sie, Ihr

Jean-Claude Lin