Yonas Farag im Gespräch mit Ralf Lilienthal

Gitarrenriff & Richterrobe

Nr 194 | Februar 2016

Ich treffe Yonas Farag in seinem kleinen Richterzimmer im Gebäude des Sozialgerichts Berlin-Moabit. Wie soll man den besonderen energetischen Modus charakterisieren, den der quirlige Vierunddreißigjährige während der zwei Stunden Interviewzeit ausstrahlt – gelassene Positivität, ungebrochene Freundlichkeit, wache Offenheit? Es scheint ganz so, als wäre ein Hartz-IV Empfänger auf der Suche nach Gerechtigkeit, mit einem solchen Richter gut beraten. Und dass der gleiche Mann freitags und samstags als professioneller Punkmusiker auf der Bühne steht und sein Publikum rockt – glaubt man sofort. Doch während sein Wirken als Komponist, Gitarrist und Sänger der international bekannten Band «Montreal» sich in Platten und Konzerten öffentlich niederschlägt, ist der Jurist Farag eher ein lokales «Phänomen».

Ralf Lilienthal | Herr Farag, womit beschäftigt sich eigentlich ein Richter am Sozialgericht?
Yonas Farag | Am Anfang vor allem mit Klagen rund um die Hartz IV-Rechtsprechung. Später erweitert sich das zum Beispiel um Fragen des Schwerbehindertenrechts oder der Pflege, um Unfallversicherung und geht bis hin zu umfangreichen Kassenarztrechtsprozessen.

RL | Das klingt zunächst wenig spektakulär – was hat Sie hierher geführt – was hält Sie hier?
YF | Wie weit soll ich ausholen? Das Jurastudium war als Berufs­wunsch eigentlich dritte Wahl. Aber dann lief alles erstaunlich glatt und ließ sich mit der Musik (Berufswunsch Nummer eins) vereinbaren, also bin ich dabeigeblieben. Ende 2006, nach einem Jahr mit knapp einhundert Konzerten, einer Platte und dem ersten juristischen Staatsexamen, habe ich im Referendariat die Facetten meines Berufs in der Praxis kennengelernt und hätte mich gegen Ende des letzten Praktikums beinahe für das Angebot von Freshfields, einer der bedeutendsten Internationalen Wirtschaftskanzleien, entschieden.

RL | Also gewissermaßen für den «goldenen Käfig»!?
YF | Und für eine anfangs spannende Welt! Ich war dann für eine Kanzlei in Paris, mit eigener Wohnung und sehr gutem Gehalt – aber dafür habe ich auch nicht selten bis vier Uhr morgens im Büro gesessen. Doch mir gefielen die Perspektiven nicht. Denn während du in den ersten fünf Jahren nicht viel mehr machst, als Akten aufzuarbeiten, wartet danach ein Spiel auf dich, das ich nicht spielen wollte. Du gehst zu Ver­anstaltungen, machst nette Konversation und musst auch dann die Klappe halten, wenn dein Geschäftspartner ein echter Kotz­­brocken ist. Und du musst immer wieder deine Expertise als die Beste von allen verkaufen – das liegt mir nicht.

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RL | Stattdessen Sozialgericht Moabit? Wie kam der in einer Hamburger Vorstadt großgewordene Jurist nach Berlin?
YF | Es hätte nicht zwangsläufig Berlin werden müssen, aber es sollte ein Stadtstaat sein. Als Assessor, also als Richter auf Probe, bewirbst du dich beim Land. Da kann es sein, dass du Köln willst und Arnsberg bekommst. Aber als Musiker brauchst du Großstadtstrukturen: ein Studio, Techniker, Leute aus dem Management- und Agenturbereich. Außerdem mag ich alles Urbane. Berlin ergab sich dann einfach.
Nach einem Jahr bei der Staatsanwaltschaft und einem Richterjahr am Amtsgericht Tiergarten, wurde ich zunächst eineinhalb Jahre Proberichter und bin seit September 2013 als «Richter auf Lebenszeit» beim Sozialgericht gelandet. Als ich mich in die Thematik reingefuchst hatte, begann mir die Sache Spaß zu machen. Bei uns stehen Menschen im Mittelpunkt, nicht Akten! Der rechtssuchende Bürger – der übrigens keine Gerichtskosten tragen muss – möchte eine behördliche Entscheidung überprüft wissen. Es geht meist um kleine Beträge, allerdings mit großer Bedeutung für den Kläger.

RL | Worauf kommt es dabei an? Gibt es für den Sozialrichter echte Ermessensspielräume? Die erarbeitete Sachlage scheint doch, etwa im Vergleich mit einem Indizienprozess vor dem Strafgericht, relativ eindeutig und das Urteil am Ende nur noch «faktenlogisch» – oder?
YF | Genau dort geht es schon los. Angesichts der Vielfalt der Fälle darf es kein Schema F geben. Meine Aufgabe ist es tatsächlich, durch gründliches Aktenstudium eine vernünftige Diagnose zu stellen – erst danach kann ich die geeignete Medikation finden. Und das ist der entscheidende Punkt. Wenn ich alles richtig gemacht habe, geht der Kläger zufriedener aus dem Saal, als er hereingekommen ist, selbst wenn seine Klage abgewiesen wurde. Er soll merken, dass ich ihm zugehört und mich seiner Sache gewidmet habe. Eine ganz wichtige Voraussetzung dafür ist allerdings, dass ich eine Sprache spreche, die er verstehen kann!

RL | Treten wir einen Schritt zurück von Ihrer unmittelbaren Tätigkeit. Als Assessor mussten Sie gleich zwei Mal den Vorgesetzten Ihrer Behörde Rechenschaft über Ihre «Freizeitbeschäftigung» geben. Punkmusik und Jurisprudenz – das scheint auf den ersten Blick nicht zusammenzupassen. Wie steht es mit dem umgekehrten Fall: Ein Punker als Systemdiener – nimmt irgendjemand in der Szene Anstoß daran?
YF | Einmal abgesehen davon, dass Montreal keinen «politischen Punk» spielt und abgesehen davon, dass kaum einer in der Szene wichtig findet, womit der andere sein tägliches Brot verdient, gibt es überhaupt keinen Grund, hier einen Widerspruch zu konstruieren! Politischer Protest muss sich nicht zwingend gegen das System als Ganzes wenden. Er kann sich etwa gegen die Übermacht der Konzerne richten oder simple tagespolitische Entscheidungen betreffen. Ich habe zum Beispiel das Betreuungsgeld von vorneherein für Schwachsinn gehalten und könnte das selbst als Staatsanwalt öffentlich aussprechen, ohne meinen Dienstherren zu verraten. Man kann das System super finden – und das tue ich! – und trotzdem mit vielen einzelnen Ent­scheidungen unzufrieden sein.
Das Grundgesetz schützt die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, die man dazu nutzen kann, politischen Einfluss zu nehmen – auch auf der Straße oder mit künstlerischen Mitteln. Natürlich ist das System anfällig, fragil und in vielerlei Hinsicht missbrauchsanfällig, aber, um ein aktuelles Beispiel zu nennen, es nehmen nicht umsonst Millionen Menschen die Gefahren auf sich, um zu uns zu fliehen. Sie tun das, weil unser System gut ist, weil hier keine Willkür herrscht, weil die Regierenden an Gesetze gebunden sind, die an anderer Stelle gemacht werden, weil ich das Recht habe, mich gegen Entscheidungen zu wehren, weil ich Einfluss nehmen kann, indem ich beispielsweise in einer linken Punkband spiele.

RL | Oder in einer Punkband wie Montreal, die, wie Sie einmal gesagt haben, ihre Narrenfreiheit genießt. Aus welchen Wurzeln ist Montreal gewachsen?
YF | Montreal ist in der umtriebigen Musikszene einer norddeutschen Kleinstadt zur Welt gekommen – wenig Abwechslung, ein Schulraum, in dem die Schüler Musik machen durften, und ganz viele Bands, die ganz viel losgemacht haben. Dort habe ich zuerst Max getroffen, der aus dem Nachbardorf kam. Und später «Hirsch». Ich war von Anfang an für die Musik zuständig. Hirsch, der ein wirklich guter Rhetoriker ist, hat die Texte geschrieben – zuerst englisch, ab 2001 dann deutsch. Alles war ganz klassisch: Zuerst spielten wir in der Gegend, dann in Hamburg und auf kleinen Festivals, dann als Vorband für mehr oder weniger bekannte Szenegruppen. Wir hatten einen Produzenten, der mit seiner Band schon einen guten Namen hatte und uns mit auf Tour genommen hat.

RL | Ließ es sich davon leben?
YF | Überhaupt nicht, man kann froh sein, wenn man als Vorband nicht noch etwas bezahlen muss. Wir mussten für unseren Tourbus 6.000,- Euro aufnehmen, die wir dann in kleinen Raten abgestottert haben. Auf dem Überweisungsbetreff von Max, dem Schlagzeuger, stand jahrelang: «It’s a long way to the top.» Doch kurz nachdem wir die erste Platte gemacht hatten, bekamen wir buchstäblich über Nacht die Chance, mit der Bloodhound Gang aufzutreten. Die haben in den großen Städten vor bis zu 5000 Leuten gespielt. Danach haben wir dann selbst auch die kleineren Läden voll gekriegt. Das fühlte sich ziemlich gut an.

RL | Was macht den Tour- und Konzertalltag aus – das Publikum kriegt ja immer nur die Außenseite mit?
YF | Viel fahren, viel warten! Keith Richards wurde zum 25. Jubiläum der Rolling Stones gefragt «wie das denn so war …». Seine Antwort: «24 Jahre warten und ein Jahr spielen!» Natür­lich haben die großen Bands ihre eigenen Roadies, ein großes Team und müssen sich um nichts kümmern. Wir sind mit einem Tontechniker unterwegs, einem T-Shirt-Verkäufer und machen ansonsten alles selbst, was gerade anfällt. Aber warten müssen wir auch, selbst wenn wir der Haupt-Act sind.

RL | Und was hält Sie trotzdem bei der Sache?
YF | Noch stimmt alles: Es wird nicht weniger. Wir machen die Musik, die uns Spaß macht. Das Publikum geht mit und fühlt sich gut unterhalten. Vor allem aber bin ich mit meinen beiden besten Freunden unterwegs. Seit über fünfzehn Jahren. Beide haben Quali­täten, die mir selbst abgehen und die mich ergänzen. Hirsch ist ein brillanter Texter und ein guter Entertainer, der, anders als ich, auf der Bühne auch dann funktioniert, wenn er mal einen schlechteren Tag hat. Und Max ist das beruhigende Element, der Ausgleicher zwischen den beiden Platzhirschen.

RL | Auch wenn es Spaß macht, auf der Bühne zu stehen. Gibt es dennoch die häufig kolportierten Schattenseiten des Business: illegal nachgespielte Stücke, Knebel­verträge …?
YF | Heutzutage hast du andere Probleme. Wenn wir es schaffen, mit den verkauften Alben die Produktion zu bezahlen, dann ist das okay. Ein Album ist heutzutage eine Visiten­karte, um auf die Bühne zu dürfen. Auch das ist gut und richtig. Eine Platte machen, kann mit dem heutigen Equipment jeder. Die Rechnung wird auf der Bühne gemacht. Ich wundere mich manchmal, dass überhaupt noch jemand Platten kauft. Stattdessen – scheint mir – gehen die Leute wieder vermehrt zu Konzerten. Ihre Beziehungen zu einer Band sind nicht mehr nur «haptisch». Aber gut gemachte Livemusik ist definitiv schwieriger zu finden.