Alfons Limbrunner

Wer war Karl König?

Nr 194 | Februar 2016

Wegzeichen eines Visionärs

«Wir müssen nur die Idee der Heilpädagogik weit genug fassen, um ihrer wahrhaften Bestimmung ansichtig zu werden. Sie will zu einer weltweiten Tätigkeit werden, um der überall entstandenen Bedrohung der Person hilfreich entgegenzutreten. Die ‹heilpädagogische Haltung› muss in jeder sozialen Arbeit, in der Seelsorge, in der Betreuung der Alten, in der Rehabilitierung der Geisteskranken sowohl als der Körperbehinderten, in der Führung der Waisen und Flüchtlinge, der Selbstmordkandidaten und Verzweifelten sich zum Ausdruck bringen.» – In diesem visionären Satz, ein Jahr vor seinemTod ausgesprochen, steckt das gesamte Verständnis von Karl König, dieser großen, leider aber immer noch wenig bekannten Persönlichkeit. Vom Beruf des Arztes ausgehend, berührt sein Wirken vor allem soziale, psychologische, pädagogische und biographische Fragen, von seinem Lebenswerk Camphill und den damit verbundenen sozialgestalterischen und spirituellen Themen ganz abgesehen. Die im Entstehen begriffene Karl König-Werkausgabe umfasst ein Dutzend Abteilungen, die Zeugnis davon ablegen, wie breit gefächert und umfassend seine Neigungen und Interessen gespannt waren.
Karl König wurde am 25. September 1902 als einziges Kind jüdischer Eltern in Wien geboren. Die Mutter berichtet in ihren Lebenserinnerungen von einem Kind mit schwächlicher Konstitution, das mit einem leicht deformierten Fuß zu Welt kam, später seinen Altersgenossen weit voraus, aber einsam und traurig ist, und um den sich die Eltern große Sorgen machten. König erlebt den Kosmos einer vom intellektuellen Wiener Judentum geprägten Welt, den Zerfall der bürgerlichen Verhältnisse und die wüsten Nachkriegszustände, studiert Medizin und lernt die Anthroposophie kennen. Durch seine Mentorin Ita Wegman, Ärztin und bis zu Rudolf Steiners Tod 1925 dessen engste Vertraute, kommt er mit der Heilpädagogik in Berührung und damit auch mit seiner späteren Frau, die im schlesischen Eulengebirge eine kleine Einrichtung leitet. Über sie lernt er die Herrnhuter Brüdergemeine kennen, ein Erlebnis, das ihn nachhaltig prägt.
Mit der Heirat beginnen die schlesischen Jahre, die Karl König später als die notwendige Vorbereitung für die Gründung Camphills bezeichnet. Die Familie schließt sich einer kleinen Gruppe an, die mit dem Aufbau heilpädagogischer Arbeit auf dem biologisch-dynamisch bewirtschafteten Gut Schloss Pilgramshain beginnt. Die sich immer mehr ausweitende ärztliche Praxis, seine regelmäßigen Aufenthalte in Prag, seine Umtriebigkeit als Vortragender und Kursleiter in Böhmen, Deutschland und Österreich, vertrugen sich schwer mit den Verhältnissen der kleinen Gemeinschaft; zudem verschlechtern sich nach 1933 erst schleichend, dann verheerend die Lebensbedingungen für Juden in Deutschland, und man entzieht ihm das Recht auf Führung des Doktortitels. Weil die Situation politisch und menschlich immer schwieriger wird, kehren die Königs – inzwischen mit drei Kindern – 1936 nach Wien zurück. Als viel gefragter Arzt arbeitet er dort mit einer Jugendgruppe, der meist jüdische Mitglieder angehören, die später zu den Mitbegründern Camphills zählen.

Dann kommt der wohl tiefste Lebenseinschnitt: Die Annektierung Österreichs zwingt die Familie zur Emigration über die Schweiz und Frankreich nach England. In mühseliger, ent­sagungsvoller Arbeit, verbunden mit Internierungen, erfolgt jedoch der Aufbau der heilpädagogischen Arbeit auf dem Gut Camphill im Norden Schottlands – dort, wo vor langer Zeit auch die Templer mit ihren letzten Bastionen agierten.
König, der Heimatlose und Verfemte, gründet sein «Königreich» im Norden. Mit einem kleinen inneren Kreis ist er der unermüdliche Motor, hält Vorträge, veröffentlicht Bücher und fördert Neugründungen von Schulen und Gemeinschaften. Bis heute umfasst das große humanistische Projekt Camphill weltweit über 100 Einrichtungen, davon ein gutes Dutzend in Deutschland, die mit weiteren, etwa 200 Einrichtungen im Bundesverband für anthroposophisches Sozialwesen, Anthropoi, zusammengeschlossen sind. In ihnen wird versucht, das Ideal der Heilpädagogik zu realisieren: Dass jeder Mensch, wie immer er auch sei, zum Kleinod für alle anderen Menschen werden soll, dass er als ewiges Menschenwesen seine Geltung nicht verliere, wie eigen er auch in seinem Tun und Verhalten sein möge.

Drei Dinge sind es vor allem, die uns bis heute, neben der Camphill-Bewegung, in ganz und gar unverfänglicher Weise und voraus­setzungs­los bleiben: Karl König gilt als der «Erfinder» des sozialtherapeutischen Dorf­impulses. Nach Botton in England gründete er die erste deutsche Dorfgemeinschaft auf dem Lehenhof* am Bodensee. Damit kam eine Bewegung in Gang, die bis heute leuchtende Beispiele integrativer und inklusiver Lebensorte schuf.
Neben diesem Impuls ist es ein Glück für uns Lesende, dass Karl König zudem geschrieben hat – zwei zeitlos gültige Bücher: Geister unter dem Zeitgeist. Biographische Skizzen auf dem Weg in die Moderne. Darin lesen wir von Menschen und Schicksalen (Gustav Mahler, Adalbert Stifter, Charles Darwin, Samuel Hahne­mann, Sigmund Freud, Lou Andreas-Salome, Hellen Keller und viele andere mehr), die unsere Kultur von verschiedenen Seiten her prägten. Es sind Bio­gra­phien, in denen sich der Zeitgeist, das Denken und Fühlen einer Epoche, auf ganz unterschied­liche Art und Weise ausdrückte. Man sagt, König habe die Fähigkeit gehabt, bisher unentdeckte Zusammenhänge zwischen Menschen und Zeiten aufzufinden. Und neben diesem Buch ist da noch Königs Klassiker: Brüder und Schwestern. Geburtenfolge als Schicksal. Es war das erste Buch Anfang der sechziger Jahre zu dieser Thematik in Deutsch­land, ein Pionierstück von unvergänglicher Aktualität – denn wir sind entweder einziges oder erstes, zweites, drittes und so fort Kind, und damit sind Aufgaben und Schicksalsfügungen verbunden, die uns auch etwas über die Sinn­haftigkeit unserer Existenz enthüllen können.
«Ich bin ein Mensch», so Karl Königs universelle Botschaft, «nur wenn ich unter Menschen bin. Allein bin ich ein Nichts, kann ich kein Mensch sein.» Am 27. März 1966 verstarb er in Überlingen.