«Mein Shakespeare»

Nr 196 | April 2016

Liebe Leserin, lieber Leser»

«Das Leben eines bedeutenden Menschen ist eine immerwährende Allegorie», schrieb der erst 23-jährige englische Dichter John Keats im Frühjahr 1819, nur zwei Jahre vor seinem frühen Tod, « – und nur wenige Augen können das Geheimnis seines Lebens schauen – wie die biblischen Geschichten, bildhaft … Shakespeare führte ein allegorisches Leben: seine Werke sind die Bemerkungen dazu.» Festgehalten ist, dass William Shakespeare in Stratford-upon-Avon an einem Mittwoch, dem 26. April 1564, getauft wurde, mit achtzehn Jahren, am 28. November 1582, die acht Jahre ältere Anne Hathaway heiratete und sechs Monate später Vater der Tochter Susanna wurde. Am 2. Februar 1585 wurden die Zwillinge, ein Sohn und eine weitere Tochter, Hamnet und Judith, getauft. Und am 25. April 1616 wurde William Shakespeare, ehemals Mitgesellschafter des berühmtesten Theaterensembles des Landes, der «King’s Men», in Stratford-upon-Avon in der Heiligen Dreifaltigkeitskirche begraben. Es finden sich zwar darüber hinaus noch einige Ereignisse aus dem Leben Shakespeares dokumentiert, aber weder sind Briefe von ihm erhalten, noch Manuskripte seiner Dichtungen, wie der 154 Sonette, oder seiner Theaterstücke. Wer also war William Shakespeare, der größte Dichter Englands und der gefeiertste Dramatiker der Welt?
Der Shakespeare-Forscher und Herausgeber Jonathan Bate hat in seinem Buch The Genius of Shakespeare auf die eingangs zitierten Worte von John Keats wie auch auf die größte aller Shakespeare-Allegorien Everything and Nothing aus der Feder des Argentinischen Dichters Jorge Luis Borges (in dessen Buch Borges und ich) hingewiesen: «In ihm war niemand; … Als er um die zwanzig war, ging er nach London. Instinktiv hatte er sich schon angewöhnt, so zu tun, als sei er jemand, damit keiner seine Niemandheit entdecke; in London fand er den Beruf, für den er prädestiniert war, den des Schauspielers, der auf der Bühne so tut, als sei er ein anderer, vor einer Ansammlung von Leuten, die so tun, als hielten sie ihn für jenen anderen.»
Dann begann er «andere Helden und andere Fabeln zu ersinnen … Niemand war so viele Menschen wie dieser Mann … Zuweilen hinterließ er in einem versteckten Winkel des Werks ein Bekenntnis, überzeugt, dass es unenträtselt bleiben würde; Richard behauptet, dass er in seiner Person die Rolle vieler spielt, und Jago tut den sonderbaren Ausspruch: ‹Ich bin nicht, der ich bin.› Die grundsätzliche Identität von Dasein, Träumen und Darstellen inspirierte ihn zu Stellen, die berühmt geworden sind.» Nach einigen weiteren Erwähnungen schließt Borges seinen Text mit den bemerkenswerten Worten: «Die Geschichte setzt hinzu, dass er sich vor oder nach dem Sterben im Angesicht Gottes wusste und ihm sagte: ‹Ich, der ich vergebens so viele Menschen gewesen bin, will nur einer und Ich sein.› Die Stimme Gottes antwortete ihm aus einem Wirbelsturm: ‹Auch ich bin nicht: ich habe die Welt geträumt, wie du, mein Shakespeare, dein Werk geträumt hast, und unter den Gestalten meines Traums bist du, der du wie ich viele bist und niemand.›»
Wer bin ich? Und wer bist du? Diese Fragen erleben wir immer wieder neu in Shakespeares Theater des werdenden Menschen.

Von Herzen grüße ich Sie,
im Monat des 400. Todestags des Dichters.

Ihr Jean-Claude Lin