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Jean-Claude Lin

Karel Appel rückblickend

Nr 196 | April 2016

Wäre der Wunsch des Vaters, Jan Appel, in Erfüllung gegangen, so wäre sein Sohn Christiaan Karel Appel, wie er selbst, Friseur geworden. Der am 25. April 1921 in der Dapperstraat 7 in Amsterdam geborene zweite von vier Söhnen hatte im Friseur-Salon seines Vaters viele Stunden verbracht und dort das Handwerk seines Vaters gelernt und ausgeübt.
Doch nachdem Karel Chevalier, der älteste Bruder seiner Mutter Jo Appel, aus einem alten Hugenottengeschlecht, ihm zum fünfzehnten Geburtstag Ölfarben und Staffelei geschenkt hatte, zog es Karel Appel zur Malerei. Mit achtzehn zieht er aus dem Salon seines Vaters in ein eigenes Atelier, um das prekäre Leben eines Künstlers zu führen. Als die Deutschen die Niederlande besetzen, versucht er 1941 in die Amsterdamer Rijksakademie für bildende Künste aufgenommen zu werden, nicht zuletzt, um der Zwangsarbeit zu entkommen. Doch erst beim zweiten Versuch 1942 gelingt ihm die Aufnahmeprüfung. – Wäre er beim Vater geblieben oder hätte er nicht sein Ziel, Maler zu werden, hartnäckig weiterverfolgt, fehlte uns das Werk eines der expressivsten und vitalsten Künstler des 20. Jahr­hunderts.
Zehn Jahre nach dem Tod Karel Appels am 3. Mai 2006 in Zürich zeigt das Gemeentemuseum in Den Haag nun bis zum 16. Mai eine Retrospektive seines Schaffens. Sie will mit fünfundsiebzig Gemälden, zwölf Skulpturen und über dreißig Arbeiten auf Papier zeigen, dass der jahrelang in Paris und New York beheimatete Künstler weit mehr als nur ein «un­kontrollierbares, mit Farbe um sich werfendes Enfant terrible, das sich ohne Ratio auf der Leinwand abreagierte» war, wie es das Kunstmagazin art in Anlehnung an den Kurator der Retrospektive, Franz-W. Kaiser, als gängiges Klischee über Karel Appel, wiedergibt.
Auf dem Plakat wie auch auf dem Katalog zur Ausstellung, das im Verlag der Buchhandlung Walter König auf Englisch erschienen ist, ist ein besonders explosives Beispiel der Kunst Appels abgebildet: Auf schwarzem Hintergrund erscheint eine zweigeteilte, sich in gebrochenes, dunkles Rot und Weiß auf­lösende Gestalt, verbunden durch ein zum linken Bildrand hin wildes Rad. Der Titel des Bildes aus dem Jahr 1961 macht es noch verstörender: Brennendes Kind mit Rad. Was hat den Maler zu diesem überdimensionierten Bild von 320 x 230 cm veranlasst? Gerade ihn, dessen frühe Arbeiten von Niederländern oft als «kindisch» abgetan wurden und der nach einer Reise durch das zerstörte Deutschland im Jahr 1948 immer wieder berührende, wenn auch ins Abstrakte gehende Bilder von «fragenden Kindern» malte und zeichnete. Was bewog ihn zu diesem vor Schmerz schreienden gewaltigen Bild eines Kindes?
Das ist nur eines der Rätsel, die in dieser Retrospektive zu sehen sind. Ein weiteres ist das 1982 gemalte eindrucksvolle große Porträt der amerikanischen Schriftstellerin Gertrude Stein, die viele Jahre in Paris lebte, aber zu Appels Zeiten dort bereits gestorben war. Fast ganz in Schwarz gehüllt, ist von ihrem Gesicht nur eine weiße Stirn und Nase und zwei ernst schauende Augen zu sehen.
Es sind aber die an Farbe und Flächen kraftstrotzenden Bilder Karel Appels nicht in gleicher Weise rätselhaft. Das Porträt seiner Mutter, das er nach vielstündiger Sitzung – die sie fast zur Verzweiflung brachte – fertigte, zeigt eine starke, beeindruckende Persönlichkeit, die ihm offensichtlich viel bedeutete.
Das Bild aber, das mich am stärksten berührt hat, ist die monu­mentale (203 x 488 cm), in schwarzen Linien auf weiß-grau-rosa-grünem Hintergrund gemalte Begegnung mit Gott* aus dem Jahr 1981. Woher wusste Karel Appel, dass Gott nur rückblickend zu begegnen sei?

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