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Markus Sommer

Vom Zauber der Heilpflanzen

Nr 196 | April 2016

Die meisten Menschen lieben die Pflanzen, die uns umgeben. Kaum jemand bleibt unberührt, wenn er vor einem blühenden Kirschbaum steht, und auch Schlüsselblume, Gänseblümchen oder Veilchen rühren unser Herz. Von vielen dieser Pflanzen wissen wir seit Jahrhunderten, dass sie auch Heilpflanzen sind, und immer weiter wachsen die Kenntnisse, wie sie uns helfen können. Sehr häufig stellt sich dabei heraus, dass aktuelle naturwissenschaftliche Befunde bestätigen, was aus einem intuitiven Wahrnehmen der Pflanzen schon seit Jahrhunderten gewusst wurde, aber auch heute werden durch ein sorgsames Bemühen um einen inneren Zugang zu einer Pflanze immer wieder neue Aspekte ihrer Wirksamkeit gefunden, die sich in der therapeutischen Erfahrung schließlich bestätigen.
Das Evangelium spricht davon, dass alles, was es in der Welt gibt, «durch das Wort» entstanden und nichts von dem, was wir in der Welt finden, «anders als durch das Wort geworden» ist (Joh 1,3). So muss auch in allem ein jeweils eigener Nachklang des Ur-Wortes wirksam sein.
In der Seele des Dichters wird das Wort zum Lied, das «in allen Dingen» schläft. In der Welt, die man für ein zusammenhangloses Produkt von Zufällen halten könnte, wird Sinn, Zusammenhang und Schönheit wahrnehmbar, wenn wir auf das lauschen, was in ihr verborgen ist, und es zu entdecken beginnen.

Wünschelrute

Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.

Joseph von Eichendorff


Als kleines Kind fühlte ich mich (wie viele Kinder) den Pflanzen besonders verbunden, und mir scheint, dass dieses «Singen» dem Kinderohr für eine Weile noch hörbar war. Für den Herangewachsenen spricht die Welt in der Regel nicht mehr so unmittelbar, aber wenn man geduldig eine Pflanze im Jahreslauf erlebt, sich in ihre Erscheinung vertieft und sie immer wieder im Inneren lebendig werden lässt, aber auch die vielen Einzelheiten studiert, die man bis in die stoffliche Zusammensetzung hinein erfahren kann, dann können immer mehr Töne des Liedes wahrnehmbar werden, bis sich eine Melodie erahnen lässt.
Vor einigen Jahren habe ich allmonatlich in diesem Magazin in kleinen Heilpflanzenporträts auf das «Lied» zu lauschen versucht, das in den besprochenen Pflanzen liegt, und Hinweise darauf gegeben, wie uns die jeweilige Pflanze helfen kann. In angepasster Form ist daraus ein Buch entstanden, in dem – anders als im Magazin – im Anschluss an die ursprüngliche Betrachtung ausführlicher auf die therapeutische Verwendung eingegangen werden kann. Wo es sich anbietet, wird dargestellt, wie sich die Pflanze zur Selbstsammlung und Zubereitung eignet. Ihre Stellung in Phytotherapie, Homöopathie und Anthroposophischer Medizin (dem Schwerpunkt meiner Praxistätigkeit) wird ohne Anspruch auf Vollständigkeit umrissen. Hinweise zur Selbstbehandlung werden dort gegeben, wo es geeignet erscheint, in anderen Fällen ernsterer Erkrankungen dienen die Hinweise zur Information des Lesers über Facetten der Wirksamkeit der Pflanze (gegebenenfalls im Zusammenwirken mit anderen Pflanzen und Substanzen). Das eine oder andere davon mag auch für den Fachmann von Interesse sein.
Ich hoffe, mit diesem Buch nützliche Hinweise zu geben, vor allem aber zu eigenem Erleben der vielfältigen und kostbaren Pflanzenwelt anzuregen, die uns umgibt. Wenn Sie dabei gelegent­lich das «Zauberwort» finden und neues «Singen» vernehmen, würde mich das ganz besonders freuen.

(Aus dem Vorwort)