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Astrid Frank

Der weite Blick

Nr 196 | April 2016

Am Schreibtisch in meinem Büro sitze ich selten. Meistens finde ich mich, wenn meine Familie verstreut ist in Schule und Arbeit, doch irgendwie an dem großen Eichenholztisch im Zentrum unseres Hauses wieder – dort, wo unser gemeinsames Leben stattfindet, wo gegessen wird, gespielt, mit Freunden geredet, Hausaufgaben gemacht, gemalt und eben auch gearbeitet: Lebensgeschichten geschrieben, Lebenswelten erfunden.
«Schreiben ist eine köstliche Sache; nicht mehr länger man selbst zu sein, sich aber in einem Universum zu bewegen, das man selbst erschaffen hat.» Dieser Satz des französischen Schrift­stellers Gustave Flaubert (1821 – 1880) beschreibt das Wundersame am Schreibprozess. Doch um dieses Wunder zu er­mög­lichen, ist eine gewisse Losgelöstheit vom Hier und Jetzt notwendige Voraussetzung – im Alltagsgeschehen als Mutter von zwei Söhnen manchmal eine Herausforderung.
Ich kann und will nur über etwas schreiben, das mich innerlich bewegt. Ich suche mir keine Themen für meine Bücher, sondern stolpere vielmehr über sie. Manche von ihnen sind so hartnäckig, bleiben stur und treu an meiner Seite, bis ich sie in Buchform gebracht habe – und darüber hinaus. Mein neuer Roman, Unsichtbare Wunden, hat ein solches Thema. Die Idee ist in meinem Kopf, nimmt dort immer mehr Raum ein, während es für andere vielleicht so aussehen mag, als würde ich träumen. Dann gilt es, die Idee zu einem Text zu formen, die Geschichte zu gliedern, Handlungsstränge zu strukturieren, miteinander zu verflechten und schlussendlich wieder zu lösen.
Wenn dieses Konzept steht und ich ein Buch neu beginne, die Figuren meiner Geschichte aber erst noch kennenlernen muss, dann packe ich gerne freitags meinen Koffer, klemme mein Laptop unter den Arm, schnappe mir meinen Hund und ziehe mich für die Dauer eines Wochenendes irgendwohin zurück, wo ich Ruhe und Muße finde. Gerne suche ich mir dann eine Unter­kunft mit einem Schreibtisch, von dem aus ich einen weiten Blick habe.
Die ersten Seiten von Unsichtbare Wunden entstanden mit einer wunderbaren Aussicht auf das tief unter mir liegende Moseltal. Der weite Blick öffnet den Geist, lässt die Gedanken fließen, und die Figuren meiner Geschichten erwachen zum Leben, erhalten Gestalt und Stimme. Sonntagsabends kann ich sie dann als gute Bekannte mit nach Hause nehmen und mir sicher sein, dass sie auch in den Alltagswirren an meiner Seite bleiben werden, bis ich ihre Geschichte zu Ende erzählt habe.
Dieses Entfliehen aus dem Alltag ist also einerseits notwendig, um kreativ tätig sein zu können – andererseits speist sich die Kreativität aus dem Alltag: Das eine geht nicht ohne das andere. Mobbing unter Kindern und Jugendlichen, das Thema von Unsichtbare Wunden, ist ein solcher sehr aktueller und realis­tischer Inhalt, der mir in meinem Alltag als Mutter begegnet ist.
Ich empfinde Dankbarkeit dafür, dass mir mein Beruf die Möglichkeit gibt, Dingen, die mich zutiefst bewegen, durch das Schreiben auf den Grund zu gehen, sie auf allen emotionalen und kognitiven Ebenen zu erfassen. Das Ziel kann nur sein, diese Emotionalität über die Geschichten zu transportieren. Denn unsere Gefühle sind es, die uns zu dem machen, was wir sind. Und es gibt keinen schöneren Lohn für die geleistete Arbeit als die Reaktionen von Leserinnen und Lesern, denen die Figuren, die ich zum Leben erweckt habe, genauso ans Herz gewachsen sind wie mir, die mit ihnen fühlen, lachend oder weinend, und die sie ein Stück ihres Weges begleitet und ihren Blick erweitert haben.