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Maja Rehbein

Goethe im Medienzeitalter

Nr 197 | Mai 2016

Nach mehr als dreißig Jahren wieder ins Weimarer Goethe-Haus zu kommen – ein berührender Moment. Fünfzig Jahre lebte Goethe hier. Die neue Dauerausstellung Lebensfluten – Tatensturm gründet auf Faust I (Nacht, Erdgeist zu Faust):

In Lebens­fluten, in Tatensturm
Wall ich auf und ab,
webe hin und her! ...


Ein kraftvoller Titel. Wird die Ausstellung dieses Versprechen halten? Doch zuerst in Goethes Wohnräume, flache Stufen wie zu einem Altar hinauf bis zum SALVE. Dahinter kleine, halbdunkle Räume; hier meint man, Goethes angeblich letzte Worte nach «mehr Licht» zu hören.
Insgesamt 18 Zimmer sind zugänglich. Von den Repräsentationsräumen zur Straße hin ist wohl das Junozimmer als Empfangs- und Musiksalon am bekanntesten. Zwei Übergänge führen in den hinteren, den privaten Bereich und zu Goethes Arbeitszimmer.
Gedämpftheit, Maß, Gemessenheit. Die alten Holzdielen knarren. Rechts Goethes Bibliothek, dann das Arbeitszimmer, nur zum Hineinschauen. Ich stelle mir vor: Am Tisch in der Mitte sitzt der Sekretär John und schaut aufmerksam zu Goethe auf, der den Tisch beim Diktieren umrundet. Hier entstand der Faust. Direkt daneben sein karges Schlafkämmerchen. Ein Fenster nach dem Hausgarten, wo Christiane Obst und Gemüse zog und Goethe botanische Versuche durchführte.
Der Rundgang führt zu Christianes Nähplatz am Hof­fenster. Von dort konnte sie bequem das Hauswesen überwachen. Ein einfaches Leben – auf Wesentliches gestellt. Nach 200 Jahren hat sich kaum etwas verändert. Goethes Wohnräume wirken, als sei er nur kurz abwesend.
Die neue Ausstellung ist im Museumsanbau, der – außer den Handschriften – den gesamten Nachlass des Dichters beherbergt. Goethes Sammlungen werden aus den sieben Perspektiven Genie, Gewalt, Welt, Liebe, Kunst, Natur und Erinnerung betrachtet. Gedämpfte Farben und viel Schwarz herrschen vor, keine Fenster, alles wirkt diskret, fast steril.
Ein Medienguide begleitet den Besucher. Überhaupt ist das Medienzeitalter auffällig präsent: Einführungsfilm, Lese- und Hörkabinett und «Faustgalerie» (Stichworte aus Goethes Faust werden auf eine flächige Installation projiziert).
Von den mehr als 500 Ausstellungsstücken berühren besonders stark Goethes Reisemantel und sein Schreibgerät. Der Mantel unterstreicht den «Tatensturm», das Schreibzeug die «Lebensfluten». Denn er schrieb, weil er erlebte. Beeindruckend auch das Modell der schönen Hand Charlotte von Steins, das Puppentheater von August und die Exponate zur Farbenlehre.
Die frühere Dauerausstellung habe ich als frischer und lebendiger in Erinnerung, den dazugehörigen, zeitlich ge­gliederten Katalog jedoch als schwer und voll mit Essays im DDR-Modus.
Der jetzige Katalog mit seinen sieben, den Leitbegriffen entsprechenden Kapiteln, folgt einem übergreifendem Ansatz. Handlich und in kräftigem Rot beschränkt er sich auf Wichtigstes. Zu den Essays (brillant: Michael Jaeger zu Faust) und Bildern kommen Statements moderner Autoren, darunter Rafik Schami und Durs Grünbein. Spannend, diese subjektiv verschiedenen Gedanken neben der Katalog-Objektivität!
Die Lebendigkeit, die der Ausstellungstitel verspricht, scheint eher im Katalog und in Goethes Wohnräumen nachvollziehbar als in der neuen Dauerausstellung. Oder? Die Ausstellung ist für Kenner interessant, aber auch für Neulinge. Jene sollten zuerst unbefangen Goethes Wohnräume und die Ausstellung ansehen, dann gründlich den Katalog, vielleicht auch einige Literaturempfehlungen lesen. Und dann nochmals ins Goethe-Haus, frei nach dem Dichter mit wissendem, daher sehendem Auge!