Birte Müller

Premiumkinder

Nr 197 | Mai 2016

Neulich bekam ich einen Leserinnenbrief, der mich sehr beschäftigte. Ich sollte doch endlich damit aufhören, die ganze Nation vollzujammern. Frau S. schrieb: «Sie hatten ja die Wahl, das Down-Syndrom-Kind zu bekommen oder nicht.» Und dann hieß es im Text wörtlich: «Wenn ich noch jung und schwanger wäre, würde ich, wenn ich solche Dauerfrust­be­richte lese, auch an eine Abtreibung denken.»
Komischerweise habe ich gar nicht das Gefühl, immer nur zu jammern. Ich erzähle doch einfach von unserem Alltag. Aber vielleicht können andere sich gar nicht vorstellen, dass es für mich Normalität ist, dass mein Sohn nicht lesen oder schreiben kann und mit neun Jahren noch die Windeln vollmacht.
Na ja, ehrlich gesagt, ist die Windel doch so eine Sache, über die ich wirklich öfter herumjammere, aber ich finde zu Recht. Aber da ich ja die Wahl hatte, darf ich mich wohl nicht beschweren. Ich hatte die Wahl. Was bedeutet das? Bedeutet es, ich hätte somit auch die «moralische Pflicht» gehabt, mein ungeborenes Kind pränataldiagnostischen Untersuchungen zu unterziehen? Ob man bald, wenn man ein behindertes oder ungetestetes Kind erwartet, einen Zettel unterschreiben muss, in dem Sinne: Ich bekomme dieses Kind auf eigene Verantwortung, wenn es schwierig wird, werde ich nicht öffentlich herumjammern und alle Kosten selbst tragen …?
Jammern nicht alle Eltern – und wissen wir nicht alle, dass das nicht bedeutet, wir hätten unsere Kinder lieber gar nicht bekommen, sondern nur, dass wir ziemliche Waschlappen bei der konsequenten Erziehung sind? Oder gilt es nur für ein behindertes Kind, dass man sich nicht beschweren darf? Muss ich wirklich, wenn ich von Willi schreibe, jedes Mal extra dazu­sagen, wie sehr ich dieses Kind liebe? Dass ich noch keine Sekunde in meinem Leben bereut habe, dieses Kind zu be­kommen (außer vielleicht ganz, ganz kurz vorletzten Freitag, als Willi versucht hat, mit dem Inhalt seiner Windel den Buch­staben «A» an die Wand zu schreiben)?
Ich glaube übrigens nicht, dass wir bei Kindern «die Wahl» haben. Sie sind, wie sie sind! Das Leben ist lebensgefährlich, es gibt kein Recht und keine Garantie auf ein nichtbehindertes oder gesundes Kind. Wer darauf besteht, sollte vielleicht besser keines bekommen. Aber am Ende ist es auch Quatsch, so etwas zu sagen, denn auch solche Eltern, die glauben, sich ein Designer-Kind basteln zu können, werden genau das Kind lieben, was zu ihnen kommt.
Ich bin unendlich glücklich, meine beiden Kinder zu haben, und zwar so, wie sie sind: echte Premiumkinder! Ich würde sie gegen nichts und niemanden eintauschen und werde trotzdem weiterquengeln ein bisschen lamentieren, wie anstrengend das Leben manchmal ist. Vielleicht muss ich lernen, mehr Rücksicht darauf zu nehmen, dass für andere Leute Menschen mit Behinderungen noch nicht zur Normalität gehören und für sie unser Glück deswegen schwer nachvollziehbar ist. Also werde ich bald mal wieder eine Hommage auf Willi schreiben, was für ein toller Mensch er ist und was man von ihm alles lernen kann.
Was ich allerdings mit dem Vorwurf von Frau S. machen soll, dass ich die Abtreibung ihres potenziellen Kindes (und Millionen anderer) zu verantworten hätte, weiß ich nicht. Diese Verantwortung muss schon jede und jeder selbst tragen. Aber eines weiß ich: Eine Gesellschaft, die uns spiegelt, wir hätten bei unserem Kind die Wahl und wären somit selbst schuld, wenn es eine «Besonderung» hat, nimmt Eltern den Mut, ihr Baby einfach so zu nehmen, wie es ist. Das drängt sie in die pränatale Diagnostik und dadurch zu furchtbaren Entscheidungen, die eigentlich kein Mensch treffen kann!