Titelbild Hochformat

Johannes W. Schneider

Im Gleichgewicht

Nr 197 | Mai 2016

Schicksal wird oft geschildert als die Folgen meiner früheren Taten, die auf mich zurückschlagen. Schicksal aber will nicht Fehler, die ich früher begangen habe, bestrafen, sondern Schicksal hat mich im Blick. Es findet seine Erfüllung nicht in einem Ausgleich von Schuld, sondern in meiner Selbstfindung. Das Schicksal will mich: mich in einer gesunden Beziehung zu der Welt, in der ich lebe.
Ein Mann hatte während seiner Jugend in einer ausweglos scheinenden Situation ein Gespräch mit einem älteren Menschen, das ihm wieder Perspektive und Mut für das Leben gab. Dass das Gespräch dem Jugendlichen gut tat, hat er damals schon gespürt, aber erst später konnte er so recht würdigen, was dieses Gespräch für sein Leben bedeutete. Nun hätte er diesem älteren Menschen gerne gedankt, nicht nur mit Worten, sondern mit Taten. Aber der ist inzwischen gestorben. Der heute Erwachsene spürt, dass dadurch, dass er diesem älteren Menschen nicht mehr Gutes tun kann, das Gleichgewicht zwischen ihm und der Welt gestört ist. Unwiderruflich? Da begegnet er einmal einem Kind, das vernachlässigt ist und Hilfe braucht. Er mag dieses Kind sogleich und hilft gerne. Und spürt nach einiger Zeit, dass seine Beziehung zur Welt wieder «stimmt».
Hier wird das zentrale Motiv des Schicksals erkennbar. Es geht im Schicksal nicht um Belohnung oder Strafe für Handlungen, es geht nicht nur um die Beziehung zwischen diesen beiden Menschen, der Schicksalsausgleich kann auch in der Hilfe für einen anderen Menschen erfolgen, und dessen Situation kann ganz anders aussehen als die eigene Situation damals. Es geht zentral um das Gleichgewicht zwischen Empfangen und Geben. Ich verdanke der Welt, dass ich überhaupt bin und dass ich der bin, der ich heute bin. Gebe ich auch anderen in entsprechendem Maße die Möglichkeit zu werden, wer sie sein wollen?
Es gibt in der mittelalterlichen Kunst ein Bild Michaels: Der Erzengel erscheint beim Jüngsten Gericht mit der Waage in der Hand. In die eine Waagschale legt der Engel die guten Taten eines Menschen, in die andere Waagschale legen Dämonen, die gerne in der Mehrzahl auftreten, die bösen Handlungen. Und Michael wartet darauf, welche der Waagschalen nach unten sinkt, welche gewichtiger ist. Wenn es die Schale mit den bösen Handlungen ist, so dürfen die Teufel diese Seele mit sich nehmen in die Hölle. Ist es die Schale mit den guten Taten, so darf der Engel seinen Menschen in den Himmel geleiten. – Nun gibt es, wenn auch seltener, Bilder Michaels mit leeren Waagschalen, die im Gleichgewicht zueinander stehen. Und Dämonen versuchen, dieses Gleichgewicht zu stören, werden aber durch Michael zurückgewiesen. Der Mensch, der im Gleichgewicht ist, dessen Schicksalsbeziehung ausgeglichen ist, der ruht in der Hand Michaels. Das sehen wir in einem modernen Schicksalsverständnis ganz ähnlich.
Wenn heute eine «Reinkarnationstherapie» empfohlen wird, so wird oft einseitig darauf hingeschaut, dass frühere Fehler heute eine seelische oder auch eine leibliche Erkrankung hervorrufen und dass daher die Fehler von damals durch heutige Taten ausgeglichen werden können und sollen. Doch was ich damals getan habe, kann heute nicht ungeschehen gemacht werden. Und meine heutige Lebenssituation ist eine ganz andere als die von damals. Dass ich nicht im Gleichgewicht bin zur Welt, das ist geblieben und das kann angegangen werden. Dazu aber brauche ich nicht zu wissen, was früher war, da brauche ich nur ein klares Bild meiner heutigen Situation. Wenn ich mein heutiges Verhältnis zur Welt ordne, schaffe ich einen Ausgleich für die Schwächen in der Vergangenheit, eine Heilung im Schicksal, in der Begegnung mit denjenigen Menschen, mit denen ich es heute zu tun habe.