Annette Wagner (Text) & Christina Kuhaupt (Fotos)

Einfach machen! Willkommen in Bremen

Nr 198 | Juni 2016

Zum bundesweiten Vorlesetag bringt Mohamed (12) seine an­mutig klingende Sprache in die Bibliothek mit – und eine ur-Bremer Geschichte. Der syrische Flüchtlingsjunge liest das Grimm’sche Märchen Die Bremer Stadtmusikanten auf arabisch: Esel, Hund, Katze und Hahn müssen aus ihrer Heimat fliehen. Unterwegs tun sie sich zusammen. Gemeinsam beschließen sie: «Komm, lass uns nach Bremen gehen! Etwas Besseres als den Tod findest du überall!»
Kurze Zeit zuvor war Mohameds Familie nach monatelanger Flucht in Bremen gelandet. Mit 120 anderen Menschen aus Syrien, dem Irak, Albanien und Afghanistan wohnt er jetzt in der Sporthalle des Bremer Polizeipräsidiums. Ein Massenlager ohne Trennwände, das kaum Schlaf erlaubt und keine Privatsphäre bietet – für die zutiefst erschöpfte Familie ein Albtraum.
Öffentliche Bibliotheken als gastlicher Ort mit multimedialem Angebot zur Bildung und Unterhaltung gibt es in den meisten arabischen Ländern nicht. Ein fremder Kosmos mit komplizierten Begriffen wie «Buchungsstation» und «Rückgabefrist». In der Eingangshalle der Bremer Stadtbibliothek wartet eine schmale Frau geduldig, bis die nächste Flüchtlingsgruppe für die Hausführung komplett ist. «Can somebody translate English or Arab language to Farsi for the Afghan people in the group?», fragt Britta Schmedemann freundlich. «Nobody? Dann schaffen wir das auch so.» Spürbar, dass sie es liebt, Neubremern den Zugang zur deutschen Sprache und zum Glück des Lesens zu eröffnen.
Der erste Ausweis, den Bremer Flüchtlinge im Sommer 2015 sofort und kostenlos erhalten, ist nicht die begehrte Aufenthaltserlaubnis – aber die Karte für die Stadtbibliothek. In den Notunterkünften hat sich schnell herumgesprochen, dass die Bücherei ein «guter Ort» ist: Nicht nur, weil man dort kostenlos Sprachkurs-CDs und deutsch-arabische Bücher ausleihen, freies WiFi nutzen und in Ruhe lesen kann. Wer eintritt, hat das Gefühl, ein willkommener Gast zu sein. Das geht den Flüchtlingen nicht überall so.
Die «Zielgruppenbeauftragte» Britta Schmede­mann hat ein bundesweit wegweisendes Konzept entwickelt, um Flüchtlingen und Asylbewerbern die Schwellen­angst zu nehmen. Dass das Personal an den Infotheken trotz großem Ansturm und babylonischem Sprachengewirr stets freund­lich bleibt, ist professioneller Ausbildung zu verdanken. Die Mitarbeiter der neun Büchereien und der Bücherbusse wurden nicht nur interkulturell sensibilisiert und sprachlich geschult. Sie lernten in Rollenspielen, wie man sich fühlt, wenn man kein Wort versteht.

Berührende Bewegung

Es ist «kurz nach Köln» als vier angehende Theaterpädagoginnen in einem bunten Bremer Szene-Viertel ihr Performance-Projekt mit Flüchtlingen und Zugewanderten starten.
Während bundesweit das Klima nach den sexuellen Übergriffen rund um den Kölner Hauptbahnhof an Silvester gerade von sprachlos zu hysterisch kippt, stehen im Bremer Tanzwerk vier attraktive junge Frauen einem Dutzend afrikanischer und arabischer Männer gegenüber: Auge in Auge, angstfrei, ohne Vorurteile. Einfach machen! Eine weitere Bremer Speziali­tät.
Die Studentinnen haben einen Förderpreis bekommen, um gemeinsam mit Flücht­lingen «den Wohnort Bremen unter die Lupe zu nehmen und persönliche Er­fahrungen künstlerisch umzusetzen.» Eine Jury, zu der auch die engagierte Bremer Sozialsenatorin Anja Stahmann gehört, hat das Mavala-Team ausgewählt. Die Hansestadt Bremen war nicht nur die erste Stadt, die Flüchtlingen eine Gesundheitskarte für Arztbesuche gab. Sie unterstützt auch kleine Kreativprojekte zu deren Beheimatung.
Die jungen Flüchtlinge aus Guinea, Eritrea, Syrien oder Afghanistan blicken scheu auf die fröhlich lachenden jungen Frauen. Eine gemeinsame Sprache, die alle Menschen in dem kargweißen Tanzstudio sprechen können, gibt es nicht. So weit, so fremd. Zunächst üben die Frauen und Männer, einander fest in die Augen zu schauen. Jeder begrüßt den anderen mit ihm vertrauten Worten: «Salam aleikum!» – «Ngala!» – «Moin!» – «Ola!» – «Good morning!» – «Nas­trowje!» Ihr Arbeitsmotto ist von der Dichterin Hilde Domin geliehen: Lasst uns den Fuß in die Luft setzen ... Vielleicht trägt sie ja, die multikulturelle Bremer Atmosphäre?
In der Hafenstadt sind schon immer Menschen aus aller Welt angelandet. Als Zugereister fühlt man sich nicht ganz so fremd wie anderswo. So empfindet es jedenfalls Daniel aus Ostdeutschland, der auch mittanzen möchte im Performance-Projekt. Dass die Tanztrainerinnen alles andere als typisch deutsch sind, ermutigt die jungen Flüchtlinge, sich zu öffnen: eine kommt aus London; eine ist Deutsch-Russin, aber in China aufgewachsen. Die einzige ge­bürtige Bremerin hat italienische Wurzeln. Von Begegnung auf Augenhöhe wird in Willkommens-Projekten für Flüchtlinge dieser Tage viel gesprochen. Hier passiert sie.

  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
Fotos: © Christina Kuhaupt | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Bretter, die Geschichten erzählen

Am Weserufer sitzt ein bierfröhlicher Mann und schaut jungen Flüchtlingen beim Longboardtraining zu. «In Städten, durch die ein Fluss fließt, seien die Menschen toleranter als anderswo», erklärt er. Den Strom zu betrachten mache den Kopf weiter. Hinzu komme in Bremen der Tidenhub: Das tägliche Sinken und Ansteigen des Weserpegels um drei bis vier Meter durch die Gezeiten der nahen Nordsee – und leider auch der häufige Regen – machten doch klar, dass man nicht alles im Leben selbst bestimmen könne. Auch deshalb nähmen die Bremer die Dinge so, wie sie kommen.
Samba aus dem Senegal, Nima aus Afghanistan, Alpha aus Guinea waren unbe­gleitete minderjährige Flüchtlinge, als sie einen Ferien-Workshop mit dem südafrikanischen Longbord-Fahrer Kent Lingevelt machen durften. Lingevelt weiß, was Armut und Ausgrenzung bedeuten: Durch Skaten kam er raus aus den Slums von Kapstadt. Seine Downhill-Races vom Tafelberg und seine individuell designten ALPHA-Longboards sind Kult.
Eine junge Lehrerin für Deutsch-Vorkurse, Susanne Weber, war überzeugt: So einer wie Kent Lingevelt könnte in Bremen gestrandete minderjährige Flüchtlinge stark machen. Sie startete das Crowd­funding-Projekt Skate, Create, Life! - und erreichte die Zielsumme für 20 Board-Rohlinge und ein Flugticket aus Kapstadt. Kent inspirierte die elternlosen Jugendlichen, darauf zu sprühen und zu malen, wer sie sind: woher sie kommen; woran sie glauben. Er lehrte sie auch: «Nothing can stop you from falling. But you have to get up again!»

Gute Nachbarschaft will gelernt sein

Einfach machen! Das kann auch mal schiefgehen: Als Studierende der Hochschule der Künste in der Überseestadt Meet your neighbours eröffneten, einen Treffpunkt für Flüchtlinge aus zwei benachbarten Notunterkünften, endete die zweite Veranstaltung in einer wüsten Schlägerei. Der Auslöser war schlicht: Ein Iraner und ein Syrer stritten um das nächste Spiel am Tischkicker. Dann ging alles sehr schnell. Aufgestauter Frust über die Wohnbe­dingungen im kalten Zelt und alter Hass zwischen den beiden Nationen entluden sich ausgerechnet dort, wo im öden Niemandsland zwischen Zeltstadt, Großmarkt und Lagerhallen ein gastlicher Ort für Flüchtlinge eröffnet wurde.
Andernorts wäre dieser Gewaltausbruch das Ende des Begegnungsformats gewesen. Doch in Bremen erschrickt man nicht gleich, wenn’s mal kantig wird. Das Veranstalterteam suchte das Gespräch mit den Auslösern der Schlägerei. Machte ihnen klar, dass mehr auf dem Spiel stand als kostenlose Konzerte und Filmabende; dass jede Polizeimeldung über Schlägereien zwischen Flüchtlingen die Angst und die Vorurteile der Bevölkerung vergrößere. Die Kontrahenten entschuldigten sich beim Hochschul-Rektor, baten um Fortsetzung der Reihe. Man machte weiter: vorerst halböffentlich, mit Voranmeldung per E-Mail – und ohne Tischkicker. Beim dritten Meet your neighbours-Treff brachte Charlie Chaplin als heimatloser Tramp in Lichter der Großstadt 200 eingeborene und zugereiste Zuschauer zum Lachen und zum Weinen.

Bremer Streitkultur: Man geht aufeinander zu. Man lernt voneinander. Die Mavala-Truppe fand einen stimmigen Tanzabstand zwischen Männern und Frauen. Acht Flüchtlinge überraschten mit einer berührenden Performance und selbst geschriebenen poetischen Texten: «Was hast du gedacht, als du mich gesehen hast? / Ich bin neu hier. / Das weiß ich sehr wohl. / Wenn du wissen willst, wer ich bin, / dann schreib dich in meinen Rhythmus ein.»
In der Stadtbibliothek steht mit der Signatur «Willkommen in Deutschland» ein neues Doppelregal mit Büchern für ehrenamtliche Flüchtlingshelferinnen und -helfer. Es wird rege genutzt. Britta Schmedemann packt gerade 31 mobile Medienboxen für Flüchtlinge: Je 50 zweisprachige Bücher, Sprachkurse, Stadtführer wird sie direkt in die Notunterkünfte bringen.
«Viel zu früh!», protestiert die Heimleitung der Notunterkunft, als eine Ehrenamtliche die Einladung der Stadtbibliothek zum Vorlesetag mitbringt. Was, wenn die wilde Kinderhorde sich dort daneben benimmt? Doch Mohamed will zeigen, dass er das kann. Die jungen Männer, die außer ihren Smartphones kaum etwas wahrnehmen, sind stolz, «dass unser Kleiner sich traut». Ein Flüchtling hat eine arabische Kurzfassung der Stadtmusikanten erstellt. Die wird Mohamed lesen. Die Kinder­betreuerin übernimmt den deutschen Text.
Erst klingt Mohameds Stimme verzagt, dann laut und klar. Zehn Erwachsene aus der Sporthalle, zur Ermutigung mitgekommen, schweigen verblüfft. Die Kinder im Publikum jubeln und klatschen nach jeder Passage. Sie verstehen kein Wort, doch es klingt so schön – und Mohameds Ernst und Eifer berühren jeden im Raum. Eine Zeitungsreporterin interviewt Mohameds Mutter. Plötzlich ist sie mehr als «eine Flüchtlingsfrau aus Syrien». Fröhlich erzählt sie, dass ihr Sohn schon immer gerne gelesen hat. Noch haben sie keine Wohnung, keine Ausweise. Doch etwas heimatlicher fühlt die neue Stadt sich jetzt an.
Am Weserufer flitzen zwischen anderen Bremer Jungs Samba, Fahid und Nima entlang. Es sei denn, es regnet grade.