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Josef Ulrich

«Es ist der Geist, der sich den Körper baut»

Nr 198 | Juni 2016

Gibt es Selbstheilungskräfte in uns? Ja klar, jeder hat schon gesehen, dass eine Wunde oder ein Knochenbruch heilen kann. Aber wie sieht es «dazwischen» aus, zwischen der Haut und unserem Mark und Bein, in jeder Zelle? Gibt es da auch Selbstheilungskräfte? Ja, die gibt es, denn ohne die andauernde Heilkraft in jeder Zelle könnte sich kein Leben aufrechterhalten.
Wie können wir dieses Potenzial der ständigen Heilung in uns unterstützen? Klar ist: Der Wille zum Leben, der Glaube an Heilung, die liebevolle Verbundenheit mit dem Leben sind hierbei von existenzieller Bedeutung.
Meine Arbeit als Kunsttherapeut und Psychoonkologe führt mich immer wieder mit Menschen zusammen, die eine lebensbedrohliche Erkrankung erlitten haben, die dann einen erstaunlichen Krankheitsverlauf nahm. Diese Menschen haben im Zuge ihrer Erkrankung oftmals beeindruckende kreative Kräfte ent­wickelt. Das hat mich zur Frage geführt: Könnte es sein, dass zwischen der Entfaltung des Kreativitäts­potenzials eines Menschen und der Lebensenergie seines Körpers eine Beziehung besteht? Könnte es sein, dass ein selbst­bestimmt geführtes Leben Krankheiten vorbeugen oder ihre Heilung unterstützen kann, indem es den Menschen zu seinen ureigenen Lebensimpulsen führt? Meine Erfahrung antwortet darauf mit einem eindeutigen, klaren Ja.
Menschen in Grenzsituationen berichten, dass es die Verfassung ihres Geistes war, die ihnen das Überleben ermöglicht hat. Nelson Mandela hat sich trotz 27-jähriger Gefangenschaft nie von Hass einnehmen lassen. Er hat die Zeit genutzt, um an dem Ziel eines friedvollen Miteinanders zu arbeiten. Über viele Jahre hat er das Gedicht Invictus von William Ernest Henley in seiner Seele bewegt. Die letzten Verse lauten: «Ich bin der Herr meines Schicksals, ich bin der Kapitän meiner Seele.»
Als Friedrich Schillers sterbliche Überreste obduziert wurden, konnten sich die Ärzte nicht erklären, wie ein Mensch mit einer derartigen Verfassung der Organe überhaupt lebensfähig sein konnte. Schillers Wallenstein sagt: «Es ist der Geist, der sich den Körper baut.»
Könnte es sein, dass die geistige Kreativität eine Urquelle der Heilkräfte im Menschen ist, die ihn zu einem authentischen Menschen werden lässt, der sagt, was er denkt, und tut, was er sagt, und der sein Denken, Fühlen und Handeln mit einer inneren Kraft durchdringt, sodass er wirklich «Herr im eigenen Hause» ist?
Mit dem Kreativitätspotenzial in jedem Menschen meine ich schlicht, dass jeder ein Gestaltender sein kann. In den Worten von Albert Steffen: «Künstler in diesem Sinne ist jeder Mensch in jeder Lebenslage, wenn er aus eigener Initiative den Impuls der Wandlung ergreift. Es braucht nicht nur äußerer Stoff zu sein, den er zum Kunstwerk gestaltet, es kann auch eine Freundschaft, ein Arbeitsverhältnis, eine Krankheit, ein Unglück oder ein Schicksal sein. Alles kann man als Künstler anfassen. Und vor allem sich selbst. Künstler werden heißt demnach im höchsten Sinne Mensch-Werdung.»
Schöpferische Kräfte muss man nicht auf Papier entfalten. Wir alle malen ständig – im Kopf, auf unserer inneren Leinwand, malen wir uns mit unseren Vorstellungen und Gedanken die Sorgen und Ängste ebenso wie unsere Zuversicht und unser Vertrauen aus. Damit sind wir an der Wirklichkeit mit erschaffend tätig. Was wir denken, wie wir uns verhalten und was wir tun, hat einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung unseres Lebens – und oft auch auf den Verlauf einer Krankheit. Wir sind nicht Opfer, sondern Mitgestalter.