Kristien Dieltiens im Gespräch mit Eva Schweikart

Ich habe eine Schwäche für Underdogs

Nr 200 | August 2016

«Dies ist, was wir teilen» – so lautet das Motto des gemeinsamen Gastlandauftritts der Niederlande und Flanderns auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2016. «Wir teilen nicht nur eine Sprache, Niederländisch, sondern auch eine Geschichte im Bereich Kunst, Kultur und Literatur. Wir teilen Dynamik», konkretisiert es Bart Moeyaert, künstlerischer Leiter des Messeauftritts und zugleich renommierter Jugendbuchautor aus Flandern, dem niederländischsprachigen Teil Belgiens. Unter den Autoren, die zur Messe eingeladen sind, um ihr Schaffen einem breiten Publikum vorzustellen, wird auch Moeyaerts Schriftstellerkollegin Kristien Dieltiens sein. Der Messeherbst lockt schon verheißungsvoll, als wir uns mit der vielseitig begabten Autorin in einem Café in Antwerpen treffen …

Eva Schweikart | Liebe Frau Dieltiens, mit Keller­kind, einem Roman, der auf dem Leben des berühmten Findlings Kaspar Hauser basiert und den Sie auf der kommenden Frankfurter Buchmesse vorstellen werden, konnten Sie ein Jubiläum feiern: Es war Ihr 50. Buch! Und inzwischen sind bereits weitere Titel dazugekommen. Wie schafft man es, in etwas mehr als 15 Jahren ein so eindrucksvolles Œeuvre vorzulegen?
Kristien Dieltiens | Das liegt vor allem daran, dass meine Bücher nicht alle gleich umfangreich sind. Neben Jugendromanen verfasse ich auch Vorlesebücher, Geschichten für Erstleser und illustrierte Kinderbücher (zum Beispiel über ADHS, Adoption, Autismus oder Trauer), die teils in die Kategorie Bilderbuch fallen. Kellerkind ist das umfangreichste Buch, das ich je geschrieben habe und zugleich das aufwendigste. Gut sieben Jahre lang habe ich intensive Recherchen betrieben, drei weitere gingen ins Land, bis es dann geschrieben war. Es ist übrigens nicht mein erster historischer Roman – vor etwa zehn Jahren erschien eine Trilogie, bei der ich noch weiter in die Vergangenheit eingetaucht bin; die Handlung spielt im Mittelalter.

ES | Wie sind Sie auf das Thema Kaspar Hauser gekommen, und was hat Sie daran fasziniert?
KD | In den Siebzigern habe ich eine Zeit lang in Deutschland gewohnt, in Hannover und in Stuttgart; der Aufenthalt hing mit meiner Lehrerausbildung zusammen. Damals habe ich im Kino den Film Jeder für sich und Gott gegen alle von Werner Herzog gesehen, der das Leben Kaspar Hausers nacherzählt. Die Geschichte ließ mich nicht mehr los, und besonders fasziniert hat mich, dass Kaspars Schicksal und vor allem seine Herkunft auch nach bald zweihundert Jahren noch Rätsel aufgeben. Es hat aber eine ganze Weile gedauert hat, bis mir das Sujet zu einem literarischen Anliegen wurde. Einerseits, weil ich damals noch nicht geschrieben habe, andererseits beschäftigten mich nach meiner Rückkehr nach Belgien erst einmal andere Dinge. Ich heiratete und bekam meinen ersten Sohn. Ein paar Jahre später habe ich mich von meinem Mann, einem Choreographen, getrennt und meinen neuen Lebenspartner kennengelernt. Er betrieb ein Kunstcafé, in dem Dichter, Sänger und Maler verkehrten. In den Achtzigerjahren zogen wir vom quirligen Antwerpen ins beschauliche Brügge. Dort wurden unsere drei Kinder geboren, zwei Söhne und eine Tochter, und Anfang der Neunzigerjahre machte eine Pflegetochter die Familie komplett. Außerdem hatte ich ja noch meinen Beruf als Lehrerin, den ich bis 2010 ausgeübt habe.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

ES | Kinder, Kunst und Karriere – also als zeitgemäßes Pendant zu Kinder, Küche und Kirche. Sind Sie selbst auch mit Geschwis­tern aufgewachsen?
KD | Ich bin die Zweitälteste von sechs Geschwistern. Weil mein Vater so großartig Geschichten erzählen konnte, dachte ich als kleines Mädchen, er sei Puppenspieler oder etwas in der Richtung. In Wirklichkeit jedoch war er im Unternehmen meiner Großeltern tätig und für den Vertrieb von didaktischem Material zuständig. Meine Eltern legten großen Wert auf eine freie Erziehung und förderten unsere musischen Neigungen. Ich habe Blockflöte, Gitarre und Klavier gelernt und in mehreren Chören gesungen. Eine Weile bin ich sogar mit selbst geschriebenen Songs in Kneipen aufgetreten, um mein Taschengeld aufzubessern.

ES | Und dann kam auch noch eine weitere Kunstform dazu – welche denn?
KD | Die bildende Kunst – sie ist ein Erbteil meiner Mutter, die selbst eine kunstpädagogische Ausbildung hatte. Sechs Jahre lang habe ich eine Kunstschule besucht und in dieser Zeit für die großelterliche Firma Motive für Glückwünschkarten entworfen. Später habe ich Kinderbücher illustriert, auch eigene, und Malworkshops und dergleichen für Kinder geleitet. Doch letztendlich mündete all das bei mir ins Schreiben, in die Literatur als meiner Ansicht nach höchste Kunstform. Wobei es keineswegs so ist, dass ich Musik und Malerei hinter mir ge­lassen hätte, im Gegenteil, meine Liebe zur Musik ist in zahlreiche Bücher eingeflossen, und es kommt vor, dass ich Roman­figuren erst an der Staffelei Gestalt gebe, bevor ich sie mit Worten beschreibe.

ES | Dass Sie beim Schreiben von Bildern ausgehen, ist Ihren Texten anzumerken, erhalten sie dadurch doch eine besondere Intensität. Ich vermute, es sind nicht nur Gemälde von eigener Hand?
KD | Nein, es kann durchaus auch etwas Erlebtes oder Gesehenes sein, das sich in meinem Kopf als Bild eingenistet hat. So auch beim Keller­kind. Meine Recherchereisen auf Kaspar Hausers Spuren führten mich nach Karlsruhe, Nürnberg und Ansbach. In einer Dorfgaststätte habe ich zu Abend gegessen, umgeben von unzähligen Hirschgeweihen an den Wänden. Das hat mich inspiriert, der Figur Michael Ostheim, mit der ich Kaspar Hausers Schicksal verknüpfe, einen Hirsch als Kameraden zur Seite zu stellen. Das Tier hilft ihm in der Kindheit zu ertragen, dass er von den Menschen wegen seiner Hasenscharte gemieden wird.

ES | Michael Ostheim, die heimliche Hauptfigur Ihres Romans, ist eine fiktive Person. Es gibt noch eine weitere: Isolde, eine Freundin Kaspars, der er sein Tagebuch anvertraut. Ansonsten treten in Ihrem Roman aber ausschließlich historisch belegte Personen auf, oder?
KD | So ist es. Und genau genommen hat auch die Figur Ostheim einen realen Bezug. Bei meinen Recherchen stieß ich auf die Aussage, Kaspar sei als kleines Kind einem Soldaten anvertraut worden, über den jedoch nichts bekannt ist. Aus ihm wurde mein Protagonist. Vage verhält es sich auch mit den Hinweisen darauf, dass Kaspar Hauser Tagebuch schrieb. Gut möglich, dass er es getan hat, auch wenn solch ein Tagebuch nie aufgetaucht ist. Ich habe mich jedenfalls dessen bedient, um ihm eine eigene Stimme zu geben. Zugleich hat es mir die Möglichkeit eröffnet, seine Weltsicht und seine persönliche Entwicklung darzustellen, sein unmittelbares Erleben und Empfinden, seine Gedanken und Gefühle. Das war mir wichtiger als die politischen Aspekte, die natürlich auch eine bedeutende Rolle spielen, weil sie seit jeher die Spekulationen anheizen. In meinem Buch ist Kaspar Hauser der badische Erbprinz, auch wenn das bis heute nicht abschließend belegt ist. Er und Ostheim sind beide gesellschaftliche Außenseiter, Underdogs, wenn man so will. Ostheim ist durch sein Aussehen gehandicapt und wird ausgegrenzt, bei Kaspar Hauser ist es die Vorgeschichte, die weitgehend im Dunkeln liegt, und die Tatsache, dass er sechzehnjährig als völlig Unbedarfter «unter die Menschen» kam. In meinem Roman werden beide zu Spielbällen von Machtinteressen.

ES | «Schreiben ist etwas Wunderbares, man seufzt und schwitzt, zweifelt und beginnt neu, richtet Chaos an und schafft Ordnung. Schreiben ist manchmal dienend, manchmal herrschend, es ist, als würde man Gott spielen und die Welt so einrichten, wie man sie haben will.» – Das sagten Sie 2005 anlässlich des Erscheinens Ihres Buches De stille pijn van Luca. Stehen Sie noch immer dahinter? Und welche Voraussetzungen muss Ihrer Ansicht nach ein guter Schriftsteller erfüllen?
KD | Diese Aussage über das Schreiben und was es für mich bedeutet, gilt noch heute, uneingeschränkt. Was einen guten Schriftsteller ausmacht … das ist schwieriger zu beantworten. Und ich kann im Grunde nur für mich selbst sprechen, obwohl manches durchaus allgemeingültig sein könnte. Ehrlichkeit gegenüber sich selbst halte ich für eminent wichtig, ebenso die Bereitschaft, sich immer wieder in Frage zu stellen. Aber auch Geduld mit sich – und Beharrlichkeit; beides hilft, Phasen großer Zweifel durchzustehen. Ich habe – bei aller Lebensfreude – auch eine kleine Neigung zur Melancholie und weile gedanklich oft in der Vergangenheit. Das kann hilfreich sein, wenn man sich mit historischen Stoffen befasst. Und besonders wichtig ist mir die Autonomie des Denkens, nicht nur für mich als Schriftstellerin, sondern auch als Ziel für meine Romanfiguren.