Andreas Altmann

Die Fremde – zweifacher Sehnsuchtsort

Nr 200 | August 2016

André Heller, das Wiener Wunderkind, meinte einmal: «Wenn ich sterbe, dann soll auf meinem Grabstein Schuldner stehen. Sonst nichts.» Er wollte damit sagen, dass er alles, was ihm gelungen ist, anderen verdankt.
Jeder ist Schuldner. Alle, die diese Zeilen lesen, plus die 110 Milliarden, die es schon vor uns auf der Welt gegeben hat. Keiner wird etwas, wenn kein anderer hilft. Auf welch geheimnisvolle oder eklatante Weise auch immer: mit einem zähen Gedulds­faden, mit einem vergnügten Lächeln, mit einem ruhigen Blick in die Augen, mit hellblauen Worten. Mit einem Kuss. Ach, die Menschlein haben Tausende von Wörtern und Tausende von Gesten, um einander beim Leben zu helfen. Wer behauptet, er hätte alles «selbst» geleistet, ist ein eitler Tropf. Oder etwas Ähnliches – ein Dummkopf.
Doppelt zählt die Freundlichkeit eines Fremden. Von einem, der sich anrühren lässt von der Not eines gänzlich Unbekannten. Von einem, dem nie der Sinn für Mitgefühl – eine unserer tiefsten Empfindungen – abhandenkam. The kindness of strangers, sagen sie im Englischen. Wie anmutig das klingt, wie tröstlich.
Ich bin gern Fremder. Ich wohne fern der Heimat. Und will immer wieder in die Welt hinaus. Und stets muss ich darauf vertrauen, dass niemand mich mit einem Eroberer verwechselt und mir die Ohren abschneidet. So habe ich mir über die Jahre – Lehrjahre – ein unschlagbares Mittel zugelegt, um mit der eigenen Angst und der des anderen fertig zu werden: Respekt. Gegenseitiger. Moses, ein junger Liberianer, schenkte mir einst, mitten im Bürgerkrieg, den bewegenden Satz: «You behave like an African, you don’t behave big.» Ich mag es, wenn ich gelobt werde. Ich bin wie jeder. Ach ja, Lobreden gehören auch in die Werkzeugkiste «Menschenfreundlichkeit».
Nun, das Schönste in der Fremde, würdig täglicher Lobgesänge, ist die Fremde. Sie ist der sichtbare Beweis dafür, dass jedes Volk seinen Anteil zum wundersamen Reichtum der Welt leistet.

Ich erinnere mich an eine Fahrt in einem afrikanischen Sammel­taxi – zugelassen für 9, in Beschlag genommen von 21 – durch Mauretanien. Vielleicht das zehntärmste Land im Universum, vielleicht das allerletzte. Wer wüsste das so genau. Während einer Pause im Wüstenloch Ayoûn el-Atroûs spürte ich den Blick einer Frau, die nur Meter entfernt im Türrahmen eines schäbigen Ladens saß. Ein Gesicht, das jedem anderen wehtun musste, so konkurrenzlos war es. Unheimlich, was Frauen zu einer Landschaft beitragen können. Ich erwiderte den Blick und die Fremde hielt stand, senkte keine Sekunde die Augen. Im Gegenteil, sie starrte mich an. – Als wir weiterfuhren, hatte ich verstanden, dass ich sie als Liebhaber nicht interessierte. Dass sie mich aber brauchte als Bewunderer. Weil sie in diesem Kraal niemand anbetete. Weil sie ahnte, dass ihre Schönheit hier verkommen, ja, sie als Lakritzenverkäuferin verkümmern würde. Bald erledigt als gebärtüchtiges Muttertier. Als wüsste sie das alles, als wollte sie sich noch einmal ihrer verheerenden Wirkung vergewissern.
Auch dies gehört zu den Vergnügungen eines Mannes in fernen Ländern: das Betrachten von Frauengesichtern. Wobei er sich jedes Mal fragt, ob – irgendwo auf der Erdkugel – etwas existiert, das auf rätselhaftere Weise lockt. Mag einer suchen auf der Welt, wo er will: Nichts wird diesen Bann auslösen, dieses – bei Männern – Ausgeliefertsein, dieses Gefühl von Schwäche.
Mein Schuldenkonto ist lang. Ich habe eine Menge Gläubiger, eine Menge Gläubigerinnen. Ganz nah die einen, weitab die vielen anderen.
Hier die zweite Story. Da kam zur Schönheit noch Esprit, der nach Weltwachheit und penetranter Neugier roch. Das ist eine teuflische Mischung. Und taucht als drittes Geschenk, wie in dieser Stunde, die Herzenswärme auf, dann ist die heilige Dreifaltigkeit komplett. Was war?

Silvana und ich trafen uns in Hebron. Die Stadt gilt das Karzinom im israelisch-palästinensischen Konflikt. Die Fotografin (drei Kameras hingen um ihren Hals) kam aus einem Wachturm, der gerade nicht besetzt war. Sie bat um Feuer, und wir beschlossen, zurück in den sieben Meter hohen Bunker zu gehen. Um allein zu sein. Und wir rauchten und flirteten, und die attraktive Jüdin aus Florenz zeigte mir ihre Fotos: Belege von Hass und Gier. Und Belege vom Zorn eines bestohlenen Volkes. Silvana war, milde gesagt, schlecht zu sprechen auf die Politik der Besatzer. Was uns nicht hinderte, ein bisschen zu tändeln.
Die Fremde überhäufte mich mit Geschenken: mit ihrer Nähe, ihrer Heiterkeit, ihren klugen Sätzen. Mir fiel ein, dass christliche Scholastiker im Mittelalter ausgerechnet hatten, dass am Jüngsten Tag ziemlich genau 144.000 Menschen ins Himmelreich gerettet würden. Und ich sah verstohlen auf Silvanas Profil. Aber nein, ich wollte nicht gerettet werden. Der staubige, so heimliche Platz, unsere Rücken gegen die schmutzige Wand gelehnt, dasitzen und verträumt dem Sonnen­strahl folgen, der auf die Kringel des Ziga­retten­rauchs fiel: Das war Himmel genug.
Darf ich’s noch erzählen, allen Männern, die manchmal, wie ich, einer Fremden begegnen, die zu den innigsten Fantastereien einlädt: Hände weg! Nein, der Satz ist irre­führend, sagen will ich: Genieße die Stunden, ach, die Tage, ach, die Nächte. Breite all den kleinen Wahnsinn vor ihr aus und vergiss keine Sekunde, wie unverschämt kurz das Leben ist. Aber dann – komme nie auf die aberwitzige Idee, sie zu dir nach Hause einzuladen. Sagen wir, nach Bielefeld. Ins Stadtcafé. Wo es nach grauem Himmel und tadellos desinfizierten Toiletten riecht. Und nirgends wartet ein wild stürzender Wasserfall, nirgends ein rosaseidener Himmel über Afrika, nirgends das verspielte Rauschen von Palmen. Nein, nie der Hauch eines vida loca. Nur Bielefeld, nur Stadtcafé, nur «Rauchen verboten!»
So ist das: Der Mensch, dem man unter so fremden, so befeuernden Umständen – in einer märchenstillen Oase, unter tropischen Regenfällen, auf ozeangrünen Inseln – be­gegnete, ist jetzt ein anderer. Wer es genau nimmt, wird sogar bemerken: ein physisch anderer. Kein Wind fährt mehr durchs Haar, keine Sonne strahlt mehr auf die (inzwischen) bleiche Haut, kein launiges Lachen ist mehr zu hören.
Deshalb, eisern bedenken: Die Fremde soll Fremde bleiben. Der französische Dichter Stéphane Mallarmé hat es schon vor Zeiten grandios poetisch notiert: «Hütet euch vor den Träumen, die in Erfüllung gehen.»