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Paul Gallico

Vom mutigen Manxmausmäuserich

Nr 202 | Oktober 2016

gelesen von Simone Lambert

Diese reizende Geschichte beginnt mit der «Schöpfung» und endet mit dem «Schicksal», und zwar des Manx­maus­mäuserichs. Ein alter Keramiker wird nach einer durchzechten Nacht inspiriert, die Übermaus zu formen, die ihm seit Jahren vorschwebt. Doch was er morgens aus dem Brenn­ofen holt, ist ein seltsames Wesen: blaues Fell, große Kaninchenohren, Affenpfötchen und Kängurubeine an einem dick­lichen Opossum­leib. Allein der zärtlich-verschmitzte Gesichtsaus­druck der misslungenen Figur bewahrt diese vor der Zerstörung. Manx­maus nennt der Töpfer die Kreatur ohne Schwanz, nach der ebenfalls schwanzlosen Manxkatze, die auf der Isle of Man existiert. Der Manxkater, das echoen alle, die ihr begegnen, wird die Manxmaus fressen: Diese epische Klammer hält die Episoden zusammen. Denn der tönerne Mäuserich, zur dreizehnten Stunde der Nacht zum Leben erwacht, macht sich auf den Weg, die Welt zu erkunden.
Nun erzählt Paul Gallico mit Witz und Sinn für Pointen von den Abenteuern der Maus. Beispielsweise von Kapitän Habicht, der die Manxmaus auf einen Flug bis nach London mitnimmt, oder auch von der Jagd, bei der der Mäuserich den Fuchs rettet: mit dem Taschentuch des Verfolgten führt er die Hundemeute auf eine falsche Fährte. Die Maus rennt von einer Seite des Ackers zur anderen, und nun bietet sich «den verdutzten Bauern, Zuschauern und Autofahrern … der über­raschende Anblick der auf einem Acker von einem Ende zum anderen hin und her reitenden Bumbletoner Jagdgesellschaft.» Bis Manxmaus, mittlerweile völlig erschöpft, einfach stehenbleibt und auf die Meute wartet. Die Jagdgesellschaft, die sich von einer Maus hat an der Nase herumführen lassen, deutet ihre Niederlage als interessanten Fang um und setzt ihrer Dummheit so die Krone auf. Sehr unterhaltsam ist auch die Geschichte um den entlaufenen Zirkustiger Burra Khan, der sich in den Käfig zurücksehnt. Auch ihm kann der Mäuserich helfen.
In seiner Hingabe und bedingungslosen Bereitschaft zur Freundschaft ist die Manxmaus ein liebenswertes Wesen. Furchtlos stellt sie sich jeder neuen Situation, was komisch wirkt, weil sie die offensichtlich Schwächere ist. Ihrer wachsenden Angst vor dem Manxkater begegnet sie, indem sie ihrem «Schicksal» entgegengeht und auf die Isle of Man fährt. Es wäre nicht der Manxmausmäuserich, wenn er nicht auch dem Manxkater mit Herz und Mut begegnen könnte …
Gallicos Geschichten um die Manxmaus sind Fabeln, die von menschlichen Schwächen erzählen, in ihrer Moralität aber nachsichtig und liebevoll bleiben. Der Autor versteht es, Realität und Fantasy so zu verquicken, dass eine lebendige, über­zeugende Geschichte entsteht. Die Manxmouse, 1968 zuerst erschienen, ist eines der liebsten Kinderbücher von Joanne K. Rowling und hat sie zu einer Figur inspiriert: der Klatterbampf, der gestaltwandelnde Grusel, war Vorbild für die furchtein­flößenden Boggarts in ihren Harry-Potter-Romanen.
Dieses Buch ist eine Wiederentdeckung. Zu einer Perle der Kinderliteratur machen es auch die wundervollen Tuschezeichnungen der niederländischen Illustratorin Linde Faas. Sie zeigt das zärtliche Wesen des Mäuserichs, trifft exakt die Bewegungen, die die Situation bestimmen, und fasst diese in kraftvoll-stille Motive. Ein herzerwärmendes Vergnügen für Groß und Klein.