Wahre Schätze des Lebens

Nr 205 | Januar 2017

Am vergangenen 13. Oktober verkündete die Schwedische Akademie in Stockholm, dass der Nobelpreis für Literatur 2016 dem amerikanischen Pop-, Folk-, Blues-, Country- und Rocksänger Bob Dylan zuerkannt werde. Damit würdigte sie Dylans «poetische Neuschöpfungen in der großen amerikanischen Songtradition». Die Reaktionen in aller Welt waren sehr unterschiedlich. Aber eins muss man dem am 24. Mai 1941 geborenen Barden aus Minnesota lassen: Er hat eines der vielseitigsten und verbreitetsten Liedwerke der Welt geschaffen, in dem das Wort in allen seinen Schattierungen, lyrisch, anklagend, erzählend, spottend, hymnisch, ein nicht wegzudenkendes Eigengewicht besitzt.
Im Januar des Jahres 1977 veröffentlichte die renommierte englische Literaturwochenzeitung The Times Literary Supplement ein Feature mit dem Titel «Reputations revisited», zu dem eine ganze Reihe Berühmtheiten eingeladen wurde, mitzuteilen, welche Bücher oder Autoren in ihren Augen am meisten über- bzw. unterschätzt seien. Bob Dylan lieferte als Antwort in beiden Fällen exakt zwei Wörter: die Bibel. Die Bibel sei sowohl das meist über- wie auch unterschätzte Buch.
Am Vorabend von Allerheiligen des Jahres 1517, also an einem 31. Oktober, schrieb der Augustinermönch und Doctor der Theologie, Martin Luther, aus Wittenberg an Erzbischof Albrecht von Mainz und legte dem Brief seine 95 Disputationsthesen zur «Klärung der Kraft der Ablässe» bei. In der 12. These der dritten Gruppe mit je 25 gezählten Thesen – also in der 62., wenn alle Thesen durchgezählt werden – heißt es bei Luther: «Der wahre Schatz der Kirche ist das heilige Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes.» Und in der Tat: für Jahrhunderte und unzählige Menschen in deutschen Ländern war die Bibel in der Übersetzung Luthers nicht nur der frohen Botschaft wegen, sondern auch wegen ihrer sprachlichen Schönheit, Kraft und Kühnheit «der wahre Schatz», nicht nur der Kirche, sondern der eigenen Bildung.
Wie ein späterer Pastor, Sprachforscher und großer Humanist und Freund Goethes, Johann Gottfried Herder, in einem seiner Briefe zur Beförderung der Humanität schrieb: «Jetzt», nach Luthers Aufstand gegen den Ablasshandel und seiner erfolgten Übersetzung der Heiligen Schrift, «Jetzt las, was sonst nie gelesen hatte; es lernte lesen, was sonst nicht lesen konnte.»
Das Jahr 2017, 500 Jahre nach der durch Luther hervorgerufenen Reformation, eröffnen wir in unserem Lebensmagazin mit einem Blick auf ihn und seine Wirkensstätte Wittenberg und werden im Lauf des Jahres zur «Kunst des Lesens» beitragen. Denn mehr noch als das einzelne Buch führt das Lesen selbst zu den wahren Schätzen des Lebens.


Liebe Leserin, lieber Leser, kommen Sie gut ins und durchs neue Jahr!
Von Herzen grüßt Sie, Ihr

Jean-Claude Lin

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