Christa Ludwig

Feuer fangen

Nr 205 | Januar 2017

Mein erstes großes Leseerlebnis

War es denn Feuer, das mein erstes großes Leseerlebnis durch­glühte? Oh ja, es flackerte hell gleißend, aber seine Flammen versanken zischend in Wasser, ertranken in Tränen, doch sie wurden nicht ausgelöscht, und auch die ungeschickte Hilflosigkeit der Erwachsenen, die nicht verstehen wollten, warum das Kind so weinte, konnte das Leuchten, das seitdem mein Leben erhellt, nicht verhindern – es war schön, es war schrecklich, und von diesem Augenblick an war ich ein «altes Kind».
Jahre davor hatte es schon mal einen ähnlichen Funkenflug gegeben. Da war ich noch im Kindergarten, Buchstaben waren rätselhafte Zeichen, die ihr Geheimnis vor mir verborgen hielten. Beim Weihnachtsmärchen sollte ich zu einem pantomimischen Spiel das Sterntalermärchen vortragen, eine Kindergärtnerin übte mit mir den Text. Einmal bekam ich, die gelernten Worte schon vor mich hin murmelnd, das Blatt zu fassen. Da ließen die Buchstaben ihre Masken fallen, blickten mich klar und unverschleiert an, denn ich schaute auf genau die gleiche Stelle, die ich gerade in meinem Kopf bewegte, und es fielen auf einmal die Sterne vom Himmel! Ich legte den Finger auf die Zeile und behauptete: «Da fielen auf einmal die Sterne vom Himmel.» Aber die Kindergärtnerin sagte: «Das kannst du noch nicht!» und nahm mir das Blatt weg. Es blieb mir nur ein sehnsuchtsvoller Blick auf die unbeschriebene Rückseite. Die auf die winterharte Erde gefallenen Sterne waren wieder nichts als lauter blanke Taler – einen Augenblick hatte ich sie in der Hand gehalten, als sie noch Sterne waren.

Das war meine erste Begegnung mit der pragmatischen Fähigkeit «Lesen», denn das muss man trennen: die Geschichten als solche und die Möglichkeit, sie selbst zu lesen. Den Geschichten war ich schon lange verfallen, verbrachte ich doch einen beträchtlichen Teil des Tages damit, hinter allen Erwachsenen herzulaufen, unter jeden Arm ein Buch geklemmt, und bettelnd: «Liest du mir was vor?» Meist trug ich die Grimmschen Märchen unter dem einen Arm und unter dem anderen die comic­ähnlichen Bildgeschichten über ein blaues papageienartiges Wesen namens Globi. Niemals habe ich versucht, diese Globi-Bücher wieder aufzutreiben, um sie meinen Kindern zu geben. Selbst die verklärende Erinnerung sagt mir, dass sie verzichtbar sind. Aber andere hatte ich damals nicht.
Und dann – lernte ich lesen! Bücher für Leseanfänger gab es noch nicht, und die Welt war sauber aufgeteilt, Mädchen bekamen Mädchenbücher, in denen Mädchen kleine Hausfrauen waren mit dem Lebensziel, einmal große zu werden. Aber immer­hin kamen Tiere in einigen Büchern vor, und die Erwachsenen hatten gemerkt, dass sie mich damit zuverlässig erfreuen konnten. So wurde es Magda Trotts Förstertochter Pucki, die mir das Initiationserlebnis schenkte, dass Lesen mehr als das Entschlüsseln von Buchstaben ist. Längst hatte sie meine Sympathie erworben, weil sie in der Lehmgrube spielte und mit vermatschten Schuhen durch die Küche lief. – Und dann starb der Hund und veränderte mein Leben nachhaltig, der alte, sehr alte Dackel des Försters. Ich musste akzeptieren, dass er aus seinem Leben ging, aber ich habe niemals zugelassen, dass er meines verließ. Seitdem haben Hunde Schlappohren. Auch der blauäugigste Husky kann meinen Blick nur so lange bannen, bis im Augenwinkel ein Setter vorbeigeht.
Die gutmeinenden Erwachsenen, die das heftig weinende Kind trösten wollten, sagten: «Aber das ist doch bloß ein Buch!» – und «Das ist doch nur eine Geschichte!» – «Du musst das nicht so ernst nehmen, das ist nicht wirklich wahr, das hat sich nur jemand ausgedacht!»
So wurde ich ein «altes Kind», denn ich war fassungslos. Was redeten die da? Ich glaubte ihnen nicht mehr, dass sie wirklich wussten, was wirklich war. Wer hat denn den einen strahlenden Sommertag verheißenden Sonnenuntergang wirklich erlebt? Jener, der, den Horizont kaum streifend, zur Haltestelle seines Busses eilt? Oder einer, der in seinem inneren Auge das intensive Orange zwischen Bäumen und Häusern aus einem Buch herausliest?

So wie der Mensch nicht von dem lebt, was er isst, sondern von dem, was er verdaut, so erlebt er auch nicht, was er sieht, sondern das, was er fühlt. Der Tod von Puckis Hund war allerwirklichstes Erleben, so traurig, so tief, und gerade weil es ein Tod war, der das Leben lebendiger machte, schenkte mir dieses Leseerlebnis jenen schwebenden Zustand tief­traurigen Glücks.
Das Schlüsselwort ist auch hier: «Mitgefühl», Empathie. Inzwischen ist die Hirnforschung diesem Phänomen auf der Spur. Untersuchungen belegen, dass die Empathie anzeigenden Spiegel­neuronen beim Lesen aktiv werden. Sie strahlen. Sie feuern. Dahin also ist der Lesefunke gefallen, mitten ins Hirn, aber dort auf genau jene Stelle, wo im Hirn das Herz ist. Und hochinteressant ist: Die Spiegel­neuronen sind vorzügliche Kenner der
Literatur. Es ist nachgewiesen, dass sie bei der Lektüre von XX (hier wurde ein Name genannt, den ich verschweige, weil ich über schreibende Menschen nichts Abwertendes mit­teilen möchte) kurz aufflammen, also ein hohes Maß von Empathie anzeigen, aber wie ein Strohfeuer rasch ausgebrannt sind. Da­gegen hält sich das Mitgefühl für Mensch und alle Kreatur, für Umwelt und alles Wesenhafte, hält sich die Anteilnahme an Freuden und
Leiden lange, sehr lange bei und nach dem Lesen einer Erzählung von (hier nenne ich den erwähnten Autor gern): Tschechow.
Ich habe niemals versucht, die Pucki-Bücher wiederzubekommen, obwohl es heute übers Internet kein Problem wäre. Aber ich glaube, sie gehören heute nicht mehr zu meinen Lieblingsbüchern, ich könnte das Lese­erlebnis von damals nicht wiederholen – und ich will es auch nicht. Es genügt mir zu wissen, Puckis Hund lebt, genauso wirklich wie ausgedacht.
Viele Jahre später wiederholte sich dieses Ereignis übrigens: Ich fand meinen kleinen Sohn tränen­überströmt in seinem Zimmer, ein zugeklapptes Buch in der Hand. Was hat er da gelesen, dachte ich erschrocken? Es war Jakob Streits Milon und der Löwe. «Aber das geht doch gut aus», sagte ich. «Ja», schluchzte er, «aber es ist zu Ende.» – Jetzt keinen Fehler machen, dachte ich, nicht so etwas Verheerendes sagen wie die Erwachsenen damals zu mir, und ich sagte: «Du kannst es doch noch einmal lesen.» Er schlug das Buch wieder auf und wortlos, immer noch schniefend, begann er von vorn.
Ein Buch ist eine Quelle, aus der Funken von Mitgefühl sprühen, eine niemals ver­siegende, denn jedes Buch ist eine unendliche Geschichte – jedes.