Evelies Schmidt (Text & Fotos)

James Murphy sei Dank

Nr 207 | März 2017

Eine abenteuerliche Fotoreise zu Irlands Sonnenkreuzen

Steine sind still. Steine sind verlässlich. Sie bekommen keine Beine – schon gar nicht, wenn sie Tonnen wiegen und seit keltischer Zeit an ihrem Platz stehen. Um sie zu fotografieren, muss man nur zu ihnen gelangen. Denkt man. Dachten wir. Umso mehr, als wir genau diesen einen Stein, den Spiralstein von Turoe, vor genau zwanzig Jahren an seinem Ort auf einer Wiese bei Bullaun (County Galway) bewundert hatten.
Dem Schild zur Turoe Pet Farm musste man folgen, er­innerten wir uns. Und da war es. In wenigen Minuten würden wir vor dem «schönsten Exemplar der La-Tène-Zeit (3./2. Jh. v. Chr.) in Irland» – wie er im DuMont-Reiseführer (1979) genannt wird – stehen. Doch dann, am Ticket-Häuschen zur Farm die Auskunft: «Der Stein ist vor zwei Jahren zur Restaurierung abtransportiert worden. Wer weiß, wann sie ihn wiederbringen.» Während unseres Irland-Aufenthalts gewiss nicht. Ach, auf diesen Anblick hatten wir uns wirklich gefreut. «Sehen Sie sich doch noch auf der Pet Farm um», schlug der Mann am Ticket-Häuschen tröstend vor, «das kostet nichts, in einer halben Stunde schließen wir sowieso.»

Also Tiere statt keltischer Kultur. Solche, wie sie in Irland zu Hause sind. Suchend streifte ich mit der Kamera übers Gelände. Vor einer halb hohen Mauer hielt ich an. Und sah zunächst – nichts. Aber ich hörte es grunzen. Ein weißes Wollschwein kam neugierig aus seinem Haus. Und dann trippelte, höchst neugierig, ein kleines rötliches Schwein auf mich zu. Jetzt! Es kam ganz nah heran und schaute zu mir hoch. Sei’s drum, dann eben ein Schwein statt Spiralstein. Eigentlich ein Glückstreffer. Hätte ich das vorgehabt, wäre es wohl kaum gelungen. Schweine haben schnelle Beine.
Aber zurück zur Kultur. Warum waren wir überhaupt so darauf aus, Menhire, Ganggräber, keltische Steine und christliche Sonnenkreuze zu sehen und zu fotografieren? Nun, einmal aus langjährigem persönlichem Interesse. Wenn man in der Bretagne durch die Steinreihen von Carnac gewandert oder in einem kleinen Boot zum Ganggrab von Gavr‘inis hinübergefahren ist, fängt man unweigerlich Feuer für die präzise und feierliche Sonnenbezogenheit dieser Anlagen, weil sie zu erleben ist. Und von der frühen christlichen Kunst fühlten wir uns schon immer besonders angesprochen. Außerdem gab es einen pragmatischen Grund: Fotos für die Neuausgabe von Jakob Streits Buch Sonne und Kreuz* zu machen. Die Motive waren also vorgegeben. Unter diesem Aspekt war der verschwundene Spiralstein ein richtiges Manko.
Ja – die irischen Umstände. Warum schien eigentlich so selten die Sonne, wenn wir vor einem der schönen Sonnenkreuze standen? Und waren rund um sie herum schon immer so viele Grabsteine, Bäume und Büsche gewesen? Offenbar hatten Besucher früherer Zeiten es leichter gehabt, die Hochkreuze ungestört ins Bild zu fassen, überdies weniger verwittert und flechtenfrei. Jetzt blieb nichts übrig, als die richtige Lücke zu finden oder auf Grabeinfassungen zu balancieren oder gar …

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Hier beginnt das «Abenteuer von Killamery», wo das so­genannte «Schlangenkreuz» zu finden ist. Wir fanden es auch, aber nicht gleich, obwohl es an der Landstraße ausgeschildert war: Killamery High Cross 2 km. Nach 200 Metern endete der Weg. War das gemeint gewesen? Immerhin stand da eine Kirchen­ruine. Und tatsächlich, dahinter ein umzäunter Friedhof mit Hinweisschild auf das «Schlangenkreuz», und dieses ragte unverkennbar am Ende des Geländes auf. Seine besonders beeindruckende Seite – die mit den Schlangen nämlich – wollte und wollte nie ganz vor die Linse kommen. Grabsteine ver­stellten die Sicht. Besonders die hohe, schwarz-marmorne Grabstele eines gewissen James Murphy. Meine Schwester kam auf die Idee, mir mit ihren Händen ein Trittleiterchen zu bilden – nicht ohne zuvor James Murphy aufrichtig um Verzeihung für unsere Untat gebeten zu haben. Ich zog mich hoch. Drückte auf den Auslöser. Wenig später schallte ein fröhliches «Hello» vom Zaun zu uns herüber. In hohen Gummistiefeln, kariertem Hemd, ein grünliches Hütchen auf den Kopf gedrückt, stiefelte ein Bauer auf uns zu. Gälisch war das nicht, was er sprach. Aber ein fast so schwer zu verstehendes Englisch. Er erzählte uns einiges über den Friedhof. Dass dort immer noch ab und zu, vor dem Kreuz, im Freien eine Messe gehalten werde; dass der Letzte der hier 2002 im Familiengrab beigesetzt wurde, sich erhängt hatte – mit gerade einmal 45 Jahren. Vor allem aber erzählte er von seinem Freund. «He was a builder, he was a carpenter». Jahrzehntelang hatte er sich um diesen Ort und besonders die Pflege des Hochkreuzes gekümmert und Fremde herum­geführt (vielleicht auch einst unseren Autor Jakob Streit?). James Murphy war sein Name.
Oha – und genau auf seinen Grabstein war ich geklettert. Hatte der Bauer das beobachtet? Er war sehr freundlich. Wo wir denn jetzt hinwollten? Nach Thomastown, zur Jerpoint Abbey. Oh, er zeigte mit dem Arm, ihr fahrt da rüber, ist nicht weit. Doch mit der Landkarte konfrontiert, kratzte er sich am Kopf. «Wait a minute, wait a minute.» Schließlich sah er mich an und meinte: «You have the brainpower, you’ll find your way» und stapfte mit einem «Bye, bye lads» davon.

Meistens ist man in Irland auf engen bis schmalsten Straßen unterwegs, deren rechts wie links schützende Hecken den freien Blick in die Landschaft verwehren. So ist man wenigstens gefasst, wenn es plötzlich gilt, einem Traktor auszuweichen. Und man kann rechtzeitig anhalten, wenn zum Beispiel eine Kuhherde entgegenkommt. Jede Eile ist dann vergessen. Man stellt den Motor ab und genießt den ländlichen Moment. Eine rothaarige Bauerntochter lächelt. Die Kühe verschwinden auf der nächsten Weide. Es kann weitergehen: zum nächsten Hochkreuz oder in die nächste kleine Stadt. Denn ab und zu macht es auch Freude, Schaufenster zu sehen, wenn sie so schön sind wie das des Antiquitätenladens in Kells. – Ja, jener Ort, in dessen Kloster das berühmte Book of Kells vielleicht entstand, jedenfalls aber aufbewahrt wurde.
Unsere dritte Reisewoche neigte sich dem Ende zu. Aus dem äußersten Westen mussten wir uns wieder gen Osten bewegen, wo noch einige wichtige Fotoziele auf uns warteten – unter welchen irischen Umständen auch immer.

Glendalough bescherte uns an diesem sonnigen, warmen Samstag ein Bad in der Touristenmenge, wie wir es auf der ganzen Reise noch nicht erlebt hatten. Doch der mit St. Kevin verbundene Ort, in den Wicklow Mountains gelegen, ist einfach wunderbar mit seinen zwei Seen, dem Rundturm und Kevin’s Kitchen. Wir nahmen uns Zeit. Der Menhir von Punchestown würde uns schon nicht davonlaufen.
Da unsere Bed & Breakfast-Wirtin zufällig aus dem kleinen Punchestown stammte, wussten wir bereits, dass der Menhir neben Irlands berühmtestem Reitturniergelände (seit 1875!) zu suchen war. Also vorbei an dem breiten Eingangstor und dann noch an einem kleineren und da! Links am Straßenrand das Schild Longstone of Punchestown. Seelenruhig wies sein Pfeil zur anderen Straßenseite hinüber, wo in der Tat die Spitze des Menhirs zu sehen war. Doch eine doppelte Reihe dichter Dornenhecken mit einem Zaun dahinter machte jeden Zugang unmöglich. Vielleicht konnte man über das kleinere Tor des Reitgeländes klettern? Wir fuhren die ca. 800 m zurück, parkten in der Einfahrt und blickten sehnsüchtig in Richtung des Menhirs. Aus dieser Entfernung war nicht mal mehr seine Spitze zu sehen. Aber es gab ein kleines Stück Zaun, das heckenfrei war. Und durch einen Zaunspalt erblickte ich – den Menhir und: Kühe, rund um ihn versammelt wie um ein Heiligtum. Was mein bloßes Auge sehen kann, müsste die Kamera heranholen können. Sie tat es. Wenigstens eine und sehr besondere Aufnahme.
Wie es uns doch noch gelang, den Longstone vor dem inzwischen abendlichen Himmel ganz aus der Nähe zu sehen, das wäre hier eine zu lange Geschichte. Ohne kilometerlangen Marsch und Überwinden eines Zauns ging es jedenfalls nicht ab. – In Irland kann man sein grünes Wunder erleben. Und Licht ist auch, wenn die Sonne nicht scheint.