Brigitte Werner

Lichtstreifen

Nr 209 | Mai 2017

Von der kleinen Bäckerei, in der ich gerne hin und wieder frühstücke, weil es dort so schön warm und gemütlich ist und ich ungehemmt die Gespräche der Bäckersfrauen belauschen kann, schaue ich auf den Vorplatz einer Bank, und etwas Fremdes, Neues irritiert meinen Blick. Mitten im Treiben dort steht ein Schrank. Ein weißer, großer Schrank. Eine junge Frau ist wohl genauso verwundert wie ich, sie beäugt ihn von allen Seiten, öffnet die Schranktüren und kramt drin herum. Dann hält sie etwas in der Hand, das verflixt noch mal wie ein Buch aussieht. Jetzt verstehe ich – und halleluja und hurra und tatsächlich: ein Bücherschrank! Alle Regale sind voll, sehe ich etwas später, als ich ihn von Nahem bestaune.
Welch bunte Mischung: Reiseführer, Konsalik, Kästner, Bildbände und jede Menge Science-Fiction. Die unteren Regal­bretter tragen die Wälzer. Ich bücke mich, da steigt mir ein Geruch in die Nase, der mir unangenehm ist. Ein Schatten fällt über die Bücher, und dann steht jemand so dicht hinter mir, dass ich seine Körperwärme spüren kann. Ich richte mich auf. Als ich mich zur Seite drehe, schaue ich direkt in sein zernarbtes, graues Gesicht. Die Haare sind lang und ungepflegt, die Kleidung auch. Und er riecht. Ich bin Gott sei Dank mit großer Unempfindlichkeit gesegnet und bleibe gelassen. «Tach», sage ich und zeige großzügig auf die Bücher, als hätte ich sie gönnerhaft gespendet. Seine Augen sind verhangen, irgendwie mit Schatten verdunkelt, aber ein Fünkchen Wasweißich blitzt in ihnen auf – und ich werde neugierig. Er beäugt mich von oben bis unten. Ich ihn auch. Wir mustern uns recht ungezwungen. Da reiche ich ihm die Hand und sage meinen Namen und dass ich es großartig finde, dass man nun hier einfach so Bücher mitnehmen oder ablegen kann.
«Großartig?», wiederholt er fragend und lächelt schief. Er zeigt auf die Reihe Karl May, die große Menge altmodischer Schmöker und sagt leise: «Kann ich nich so sehn.» Ich habe keine Ahnung von Geschmack, Bildung und Lesefreude dieses Mannes, aber da sehe ich Die Entdeckung der Langsamkeit. Ohne es zu merken, fasse ich ihn am Arm und schiebe ihn näher zum Regal. Ich greife nach dem Buch, ich blättere darin herum, ich bin aufgeregt und entzückt. Es hat mir, als ich noch im Schuldienst war, meinen Blick auf die «langsamen» Kinder erhellt. Es war die reinste Erleuchtung gewesen. Ich sage ihm das. Er räuspert sich, nickt und murmelt: «Okay, das is in Ordnung» – so, als ob er es kennen würde. Ich ertappe mich in meiner Arroganz und erschrecke.
Plötzlich erhellt sich sein Gesicht. Dieser Funken von Keineahnungwas wird ein ganzer Lichtstreifen. Er drängt mich etwas zur Seite und zieht ein anderes, schmales Bändchen aus dem obersten Fach: die Gedichte von Pablo Neruda. Er schwenkt es mir vor der Nase hin und her. Immer wieder. Ich nicke mit dem Kopf wie ein Wackeldackel vor Begeisterung. Ich frage: «Darf ich mal?», nehme es ihm einfach aus der Hand, blättere drin herum und finde, was ich suche. «Kommen Sie», sage ich, und ziehe ihn mit mir auf die nächste Bank. Wir sitzen dicht nebeneinander. Ich denke nicht, ich rieche nicht, ich bin voller Ehrfurcht und Freude. Ich sage: «Hören Sie!» Und dann lese ich ihm inbrünstig eines meiner Lieblingsgedichte vor: Die Königin.
Als ich fertig bin, sind wir beide sehr still. Der Straßenlärm ist irgendwie hinter den Häuserecken verschwunden. Er zitiert leise: «… wenn du durch die Straßen gehst, erkennt dich keiner …». Nach einer Weile steht er auf und schaut auf mich herunter. «Danke», sagt er. Ich reiche ihm das schmale Buch – und ehe ich noch darüber nachdenken kann, ob ich mich traue, ihn zu umarmen, schlurft er davon. Das Buch fest unter den Arm geklemmt.