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Dave Cousins

Ich muss etwas spüren

Nr 209 | Mai 2017

Meine ersten Schreibversuche waren Songs. Ich war besessen. Nicht einmal die Nachrichten konnte ich sehen, ohne mittendrin rauszulaufen und etwas aufzuschreiben. Mein Plan, der nächste Beatle zu werden, erfüllte sich nicht so richtig, doch ich konnte nicht aufhören zu schreiben. Es ging nicht nur um Dinge, die ich im Fernsehen sah, auch mein trubeliges Teenagerleben versorgte mich reichlich mit Stoff. Wer war ich? Wer wollte ich sein? Liebe! Das Wochenende, an dem mich meine Freundin verließ … daraus entstand ein ganzes Album!
Wenn ich ehrlich bin, waren es nicht unbedingt die besten Songs aller Zeiten, aber im Rückblick wird mir klar, dass in dieser Zeit mein Leben als Schriftsteller begann. Der Prozess, meine Gefühle auf Papier festzuhalten und in einem Song zu erklären, war mein Versuch, das alles zu verstehen. – Robert Cormier, einer meiner Helden in der Literatur, sagte, Emotionen würden ihn an die Schreibmaschine treiben. So geht es mir auch – ich muss etwas spüren: Neugier, ein Gefühl von Ungerechtigkeit, Mitgefühl, Angst …
Im Laufe der Zeit trainieren Schriftsteller ihren Verstand, sich in jeder Situation das Schlimmste vorzustellen. Für die Geschichten ist das großartig, im wirklichen Leben weniger, zumal wenn man Kinder hat. Alle Eltern machen sich Sorgen, aber meine hyperaktive Fantasie ließ mich in den Anfängen unserer Familie oft nachts nicht schlafen. Es half nicht gerade, dass eins der Kinder Katastrophen geradezu anzog und überall Chaos ausbrach, sobald mein Sohn auf der Bildfläche erschien. Die Visionen, was er als Nächstes anstellen könnte, raubten mir den Schlaf. Schließlich tat ich, was ich immer getan hatte, und stand auf, um alles aufzuschreiben. Dieses nächtliche Geschreibsel zündete den ersten Funken für Warten auf Gonzo.*
Ich begann mit einer überraschenden Wendung einer einfachen Idee – einer Teenagerschwangerschaft, die jedoch aus der Sicht des jüngeren Bruders des Mädchens erzählt wurde (jenem Unglücksraben, der kein Fettnäpfchen ausließ). Ich sah darin Potenzial für eine warmherzige und humorvolle Geschichte voller Konflikte. Es gab eine emotionale Bindung und viele offene Fragen. Doch für mich entsteht eine Geschichte stets aus einer Figur, und ich musste frustrierend häufig noch einmal von vorn anfangen, bevor Oz endlich mit einer Bruchlandung aufs Papier knallte und der Geschichte Leben einhauchte.
Allerdings war Oz kompliziert – großspurig, leichtsinnig und in Gedanken immer nur bei sich. Ich hatte Angst, dass die Leser ihn nicht mögen würden, weil er von einer Katastrophe zur nächsten taumelte und sich an jeder Ecke neue Feinde machte. Oz demonstrierte, wie eine falsche Entscheidung eine Kettenreaktion auslösen kann, die das Leben derart verändert, dass es kein Zurück mehr gibt. Andererseits verbrachte ich meine Zeit gern mit Oz, er brachte mich zum Lachen, und obwohl er so viel falsch machte, wusste ich, er hat das Herz auf dem rechten Fleck.
Geschichten stellten für mich schon immer eine Ent­deckungsreise dar –?und bei Warten auf Gonzo dachte ich über das Schicksal und den freien Willen nach sowie über die Be­deutung von Freundschaft, Familie, Verantwortung und Liebe. Aber die wichtigste Erkenntnis, die ich Oz verdanke, bestand darin, dass auch die größten «Fehlentscheidungen» etwas Wunder­bares in unser Leben bringen können. Und in den langen Stunden schlafloser Nächte erfüllte diese Vorstellung die Dunkelheit mit einem Schimmer von Trost und Hoffnung.