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Julie Johnston

Träumphasen gehören zum Schreiben

Nr 210 | Juni 2017

Ehe ich mit dem Schreiben beginne, muss ich – wie viele andere Schriftsteller auch – eine Phase des bloßen Tagträumens ab­solvieren. Ich sitze am Schreibtisch, habe den Computer angeschaltet sowie Papier und Bleistift griffbereit und schaue einfach aus dem Fenster. Aber weil das nicht so aussieht, als würde ich arbeiten, platzen ständig Leute, Familienmitglieder herein, um zu tratschen oder mich um die Lösung irgendeines weltbewegenden Problems zu bitten, weshalb die Zeit verstreicht und nicht viel zustande kommt. Oder etwa doch? Während einer dieser Träumphasen im Schreibprozess hatte ich einen Termin in Toronto.
Aha, dachte ich, ich werde also eineinhalb Stunden Zeit haben, über meinen neuen Roman nachzudenken und darüber, wie er funktioniert, frei von allen Störungen.
Ich verließ also Peterborough, Ontario, wo ich lebe, um nach Toronto zu fahren, und war schon ein ordentliches Stück vorangekommen, als ich vor mir plötzlich einen Holzbalken auf der Straße liegen sah. Ich wich ihm problemlos aus, indem ich die Spur wechselte, und fuhr dann weiter. Aber ich konnte einfach nicht aufhören, an diesen Balken zu denken – besser gesagt, mir Sorgen zu machen, jemand anderes hätte vielleicht nicht ausweichen können und einen Autounfall gehabt. Vielleicht hätte ich anhalten sollen, um ihn von der Straße zu zerren. Vielleicht sollte ich auch jetzt noch wenden und zurückfahren, um genau das zu tun. Aber ich tat es nicht. Ich fuhr weiter. Als ich dann später wieder nach Hause kam, schaltete ich die Regional­nachrichten an, um zu erfahren, ob womöglich an dem Tag jemand einen Autounfall gehabt hatte, an dem ein auf dem Highway in Richtung Toronto liegender Holzbalken beteiligt war. Das war nicht der Fall, zumindest hatte niemand einen solchen Unfall gemeldet.
Der Balken wollte mir aber nicht mehr aus dem Kopf gehen, und ich wusste, dass er in dem Roman, den ich zu schreiben beabsichtigte, definitiv eine Rolle spielen würde. Rück­blickend kann ich sagen, dass er der Katalysator für mein Buch war. Er schenkte mir eine Figur, die sich genau wie ich Sorgen machte, und wenngleich der Balken in meinem Leben keinen Schaden angerichtet hatte, war sonnenklar, dass durch ihn etwas passieren würde, das für meine Hauptfigur Val im Roman Fast wie ein Zufall* von großer Bedeutung war.
Figuren zu erfinden, die nicht in irgendeiner Weise einem selbst ähnlich sind oder Leuten, die man kennt oder die mit einem verwandt sind, ist alles andere als einfach. Manchmal bleibt einem aber nichts anderes übrig, als auf diese Personen «zurückzugreifen». Dann aber muss man versuchen, seine Figuren unkenntlich zu machen. Aber so sicher wie das Amen in der Kirche sagt jemand (in diesem Fall und bei einem anderen Buch meine Schwester), ich hätte über ihn oder sie geschrieben. «Nein, nein», schwindelte ich, «das war die Tante meines Mannes.» – «Ach so», sagte sie. «Jetzt, wo du es sagst, erkenne ich sie wieder.» In Wahrheit war meine Schwester tatsächlich eine Art Vorbild für jenes Buch. Aber es hätte auch die Tante meines Mannes sein können. In gewissen Punkten waren die beiden sich ähnlich.
Das ist vermutlich der Grund dafür, dass Menschen weiterhin Romane schreiben können, ohne deshalb jedes zweite Jahr verklagt zu werden. Es ist nun mal so, dass Menschen sich in gewissen Punkten ähnlich sind, sich ähnlich verhalten, einen ähnlichen Sinn für Humor haben oder wegen ähnlicher Dinge deprimiert sind. Da führt kein Weg dran vorbei. Jeder von uns ist das Material für die Romane anderer Menschen.
In unserem Sommerhäuschen hängt über dem Arbeitstisch ein Spruch und der lautet: «Vorsicht! Du könntest in meinem nächsten Roman landen.» Und das stimmt wirklich. Jeder könnte das …