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Annika Thor

Vorhang auf für Johanna

Nr 212 | August 2017

gelesen von Simone Lambert

Der elfjährige Johan flüchtet im Sommer 1835 in Mädchenkleidern aus dem Waisenhaus – weg von Prügelstrafe, Hunger und der harten Arbeit in der Spinnerei. Die engelhafte Schauspielerin Anna-Maria nimmt ihn unter ihre Fittiche und stellt ihn, im Glauben, er sei ein Mädchen, als Anziehhilfe an. «Johanna» erlebt eine interessante Zeit im Theater, nicht ohne Furcht, entdeckt zu werden, und trifft auf Gustav, einen Straßenjungen. Im unerschrockenen und pragmatischen Gustav, der unter einem Boot am Fluss Unterschlupf genommen hat, findet Johanna einen echten Freund. Doch auch Gustav hat ein Geheimnis. Die beiden gestehen sich schließlich ihre falschen Identitäten ein, denn Stava ist ein Mädchen! Sie floh vor ihrem gewalttätigen Stiefvater und schützt sich als Junge verkleidet vor Übergriffen.
Gefährlicher Gegenspieler in diesem Roman ist ein adeliger Theaterbesucher, der Rittmeister. Er beobachtet Johanna genau und zettelt schließlich eine Katastrophe an, die Johan fast das Leben kostet, würde die alte Madame Henriksson nicht ihr eigenes für ihn opfern. Johan verlässt mit der Theatertruppe die Stadt –?und dann nimmt sein Schicksal eine geradezu märchenhafte Wendung …
Shakespeares Komödie Wie es euch gefällt spiegelt sich in der doppelt vertauschten Geschlechteridentität – ein Motiv, an das die Autorin soziale und menschliche Fragen richtet. Johans Verwandlung lässt ihn die Welt sehen – eine Welt, die ihm Lust macht, sie zu entdecken und ein Teil von ihr zu werden, die ihm aber auch etwas abverlangt. Er lernt liebenswerte Menschen kennen, die für ihn sorgen, erkennt aber auch die Ungleich­behandlung der Mädchen, ihre fehlende Ausbildung, die Not der Armen, die Geringschätzung der Künstler nach dem Applaus. Und er begreift, dass die Missstände eine Haltung von ihm fordern, Aufrichtigkeit und Verantwortung für das eigene Handeln. Das ist schwierig: «Warum war das Leben so kompliziert? Warum musste man immer wieder Verrat üben oder selbst verraten werden?»
Es sind die Frauen in diesem Buch, die Johan diese Haltung vorleben: Anna-Maria, die für ihn sorgt und ihn schützt wie eine Mutter. Madame Henriksson, als Schrulle verlacht, die Johan das Leben rettet. Stava, die in ihrem jungen Alter über soziale Ungerechtigkeiten nachdenkt.
Annika Thor hat ihre Variante des wohl berühmtesten Romans von Charles Dickens geschrieben. Anders als in Oliver Twist, dessen Ausgangsmotiv sie übernimmt – ein Findelkind, dessen hohe Herkunft ihm verborgen ist – und etwa zur selben Zeit spielt, geht es hier nicht einfach um Rettung eines Einzelnen aus den von Kinderarbeit, Verbrechen und von Armut geprägten Verhältnissen. Johans Thema ist Menschlichkeit.
Annika Thor macht das Opfer zum Handelnden. Soziale Ungerechtigkeit auszugleichen und Menschen, gleich welcher Herkunft, Respekt zu erweisen, wird zu Johans Lebensthema werden. Dazu gehört auch, seine eigenen Gefühle nicht zu verraten: Für seine Verbundenheit mit Stava setzt er die wieder­gefundene Familienzugehörigkeit aufs Spiel.
Dieser spannende historische Roman transportiert eine berührende, zeitgemäße Botschaft vom Mut zur Mitmenschlichkeit. Wärmstens empfohlen.