Brigitte Werner

Genau jetzt

Nr 213 | September 2017

Ich bin ein neugieriger Mensch, immer auf der Suche nach Geschichten, die sich in Gesichtern verstecken – in erlauschten Dialogfetzen, abends in erleuchteten Fenstern auf Abendbrottischen oder in Sofageschehnissen.
Ich sitze gerne in Cafés, in Parks und Bahnhöfen und beobachte, höre und phantasiere. Das tat ich schon als Kind gerne: Die ungeliebte Realität erweitern, köstlich machen, fremde Welten erfinden, die prall und leuchtend waren – friedlich, voller Liebe und Geborgenheit. Und reich an erregenden Abenteuern. Und dabei den eigenen Geheimnissen auf der Spur sein, die immer unter der Oberfläche meiner Alltagsgedanken wie kleine Vulkane vor sich hin glühten und ab und zu Feuer spuckten oder eine trübgraue, alles verhüllende Asche.
Die Geheimnisse der Welt lagen ja auch überall herum, die des Himmels und der Erde, der Menschen, Tiere und Pflanzen, die Rätsel um Gott mit all den Fragen und null Antworten und das große Geheimnis meines Ichseins.
Sitze ich im Auto und stehe in einem dieser verhassten Staus, so blicke ich stets unauffällig in die Autos neben mir, schenke den meist mürrischen Gesichtern eine Geschichte, ein neues Leben, das mir gefällt und ihnen hoffentlich auch. Das vertreibt mir die Zeit und spendiert mir manchmal gute Ideen, die ich dann in mein Handy spreche, um sie nicht wieder zu verlieren. Selten höre ich Radio. Das würde mich ablenken.
Aber an einem staubigen, müden Sonntagabend, die neue Woche lag wie eine endlose, ins Nirgendwo führende Straße vor mir, spürte ich das vertraute Unwohlsein, wenn Freude all ihre bunten Fahnen versteckt hält. Da drehe ich am Knopf meines Auto­radios und höre Sting mit Englishman in New York. Ich denke so Zeugs wie: «Ja, die gute alte Zeit …» – «Ach, das war noch gute Musik …» und «Damals war alles viel besser», und erschrecke, als ich feststelle, dass ich ganz schön alt und blöde geworden bin. Das haben doch früher schon unsere Großeltern von sich gegeben, und wir haben dann genervt die Augen verdreht. Also verdrehe ich auf der Stelle gekonnt meine Augen, das kann ich gut, noch besser kann ich schielen, die Kinder kreischen dann immer entzückt.
Die Ampel springt auf Rot. Ich stehe an jener Kreuzung, an der man wirklich glaubt, die Farbe GRÜN wäre für immer im Universum verschwunden. Ich schaue ins Auto neben mir. Eine Lady im besten Alter (in meinem) schaut verdrießlich vor sich hin. Ich fühle mich ertappt und ziehe auf der Stelle meine Mundwinkel nach oben. Sie dreht am Knopf ihres Radios. Janis Joplin schreit aus den Boxen zu mir herüber. Die Lady scheint hocherfreut, ich sehe, wie sie zu lächeln beginnt, ihr Mund öffnet sich, sie singt mit, und ich drehe an meinem Radio den Sender ein Stückchen weiter und höre nun auch Janis: Freedom’s just another word for nothin’ left to lose … Ich lächle sofort auch, öffne den Mund und brülle mit. Synchron kurbeln wir zwei Damen die Fenster herunter und beschallen die Kreuzung: Der Bass dröhnt, wir wippen auf unserem Sitz, lauthals singend und strahlend. Wir schauen uns gleichzeitig an und grinsen. Ich versuche mein bestes Schielen, ein völlig begeistertes Schielen – und die Botschaft kommt an: Wir beide.
Wir haben’s noch voll drauf. Da schielt sie zurück und wir krümmen uns vor Lachen hinter dem Lenkrad. Me and Bobby Mc.Gee, brüllen wir. Halten die Daumen hoch, und dann schreie ich durch den Lärm: «und Brigitte». Sie stutzt. Dann schreit sie zurück: «und Erika». – Alles klar, Erika. Feeling good is easy, Janis. When we sing the blues.
Die gute alte Zeit war gut. Punkt. Und die Zeit, in der zwei coole alte Ladys gerade ins Lachen stürzen, ist es auch.
Das Grün kommt doch noch – wir winken: Freedom. Jetzt. Genau jetzt. Egal wie alt.