Brigitte Werner

Genau so

Nr 214 | Oktober 2017

Ich könnte gut eine Ratgebertante in irgendeiner Bäckerblume oder Metzgerzeitung abgeben. Dafür habe ich Talent. Ich kann mich gut in jemanden hineinfühlen, habe alle Weisheiten des sibirischen, tibetanischen und sauerländischen Hochlandes drauf, und es würde mir ein erhabenes Gefühl geben: Ich wäre abgeklärt, gelassen, in sich ruhend! Na, schön wär’s. Warum könnte ich das bei anderen (na ja) – und nur nicht bei mir?
Mit Kindern kriege ich das wunderbar hin. Da habe ich Geduld ohne Ende. Mit mir nicht. Niemals. Ich meckere mit mir rum. Ich bin zynisch. Ich jage mich unentwegt und rede mich zurechtweisend mit scharfer Stimme (im Kopf) mit BRIGITTE WERNER an. Ich bin unduldsam und
kritisch. Ich bin schrecklich. Nie, niemals würde ich in dieser Weise mit meinen Freundinnen, überhaupt mit meinen Mitmenschen umgehen. Wo bleibt mein kleines, hilfloses, furchtsames inneres Kind, von dem ich in einem Seminar erfahren habe? Warum wiege ich es nicht, dass es Vertrauen und Geborgenheit entwickeln kann? Warum flüstere ich nicht sanfte Worte, warum sage ich ihm nicht, dass es ein Geschenk ist, kostbar, stark und schön? Und wichtig.
Okay, das fand ich damals alles ziemlich albern, aber trotzdem liefen mir in diesem Seminar die ganze Zeit die Tränen übers Gesicht, als ich mich als schreckhaftes, dünnes kleines Mädchen sah, das mein Herz zittern ließ. Ich habe es immer mal wieder geübt. Und immer wieder musste ich heulen. Eine schöne Bescherung.
Zurzeit habe ich Stress ohne Ende. Ein Workshop, der hohe Anforderungen an mich stellt, liegt mir schwer im Magen. Meine Nachbarin macht mir das Leben schwer und erzählt Lügen über mich. Eine Freundin ist plötzlich eifersüchtig, weil ich mit einer anderen Freundin Zeit verbracht habe. Ein Manuskript will nicht fertig werden. Es hat jede Menge Haken, aber keine Ösen. Ich sitze im Auto und sage scharf: «BRIGITTE WERNER!! Du kriegst schon wieder nichts geregelt. Na klasse!»
Ich erschrecke. Höre mir zu. Höre die Mutter-Lehrer-Pastor-Nachbarn-Stimme. In meinem Bauch wächst ein hartes klumpiges Irgendwas und drückt mir die Luft ab. Ich sehe mich als kleines Mädchen mit dünnen Zöpfen und verrutschten Kniestrümpfen. Ich stehe auf dem Parkplatz des Supermarktes und kann nicht aussteigen. Ich schluchze.
Ich nehme das magere, verschreckte Kind in die Arme und flüstere immerzu: «Shschsch, schsch ... Ich bin ja da. Ich pass auf dich auf.» Dabei heule ich noch mehr. Das Auto steht unter Wasser. Aber etwas löst sich in mir. Plötzlich klopft es heftig an mein Fenster. Ich zucke zusammen und wische die Tränen mit dem Ärmel fort. Kaum zu schaffen.
Ein etwa sechsjähriges Mädchen mit zwei struppigen, winzigen Haarpinseln oben auf dem Kopf schaut in mein noch nasses Gesicht. Sie blickt lange und aufmerksam in meine Augen. Ich öffne das Fenster. «Nicht weinen!», sagt sie. Ich nicke. Sie sagt: «Willst du einen Witz hören?» – «Klar», sage ich.
Da kichert sie, ihre Augen tanzen, und ich sehe Zahnlücken und Sommersprossen. Die quietschrosa Haarspangen wackeln.
Ich habe den Witz vergessen, irgendwas kindlich Komisches mit einem Schwein und einem Pinguin … Da sehe ich eine junge Frau aufs Auto zueilen. Ich erschrecke, fast ducke ich mich. Ich erwarte eine zornige Stimme, aber sie ruft: «Julia! Da bist du ja!» Sie klingt erleichtert und sehr froh. Das Mädchen springt in ihre Arme und drückt sich an sie. Sie zeigt auf mich. «Sie hat geweint», sagt sie. «Und dann hat sie gelacht!» Jetzt kichert sie wieder. Ich lächle. «Julia hat mir einen Witz erzählt», erkläre ich. Julia strahlt ihre Mutter an. Die strahlt zurück.
«Ja, das kann sie gut», sagt sie. «Sie ist die beste Witzeerzählerin der Welt. Sie ist unsere Sonne.» Sie streicht ihr über die struppigen Zöpfe – und als sie gehen, winke ich den beiden hinterher.
Ja, denke ich. Genau so. So kann es auch gehen. Genauso werde ich es machen. Und quietschrosa Haarspangen will ich auch.