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Iain Lawrence

Wie ich auf Jimmy, den Riesentöter kam

Nr 215 | November 2017

Es gibt ein Bild, das mir nicht aus dem Kopf geht: Ein Kind mit Beinschienen schleppt sich auf Krücken vorwärts, während es von zwei Erwachsenen rechts und links von ihm unterstützt wird.
Das ist die einzige Erinnerung, die ich an Polio habe, und sie ist so schwach, dass ich mich manchmal frage, ob ich das wirklich erlebt habe. Ich wurde in dem Jahr geboren, in dem der Impfstoff, den Jonas Salk in Nordamerika gegen Polio ent­wickelte, Millionen Menschen zur Verfügung gestellt wurde. In anderen Teilen der Welt war Polio noch immer aktiv und lauerte sogar in meiner Heimatstadt im Verborgenen.
Es ist eine schreckliche Krankheit, und sie ist so alt wie die menschliche Gesellschaft. In Nordamerika setzten die schlimms­ten Epidemien nach dem Zweiten Weltkrieg ein. 1952 waren beinahe 60.000 Fälle gemeldet. Polio betraf meistens Kinder, seltener Erwachsene. Die Krankheit verursacht eine Lähmung der Muskeln in Armen, Beinen und im Brustbereich. Die meisten Patienten überstanden die Infektion wie eine gewöhnliche Erkältung, andere litten an Verkrüppelungen, oft für den Rest ihres Lebens, und konnten nur noch mit metallenen Beinschienen laufen. Jene mit Lungenlähmungen verbrachten Monate oder Jahre – manchmal sogar ihr ganzes Leben – in einer sogenannten «Eisernen Lunge», deren Pumpen und Blasebälge die Funktion der menschlichen Lunge übernahmen.
Als die Epidemien der 1940er- und 1950er-Jahren die Krankenhäuser mit Poliopatienten füllten, wurden immer größere Eiserne Lungen gebaut, die vier oder fünf Kinder übereinander aufnehmen konnten, mit Blasebälgen, die gleichzeitig für alle atmeten. Es war ein Foto von einer dieser Maschinen für insgesamt fünf Personen, so groß wie ein kleines Zimmer, aus der die Köpfe von vier Kindern herausragten wie die Punkte auf einem Würfel, das mich auf die Idee zu meinem Roman Der Riesentöter brachte.* Die Köpfe der Kinder ruhten auf gepolsterten Ablagen und ragten aus den runden Öffnungen der Maschine heraus. Über dem Kopf eines der Kinder war ein Gemälde von einem Jungen und seinem Hund angebracht. Daneben stand eine Schwester in einer weißen, gestärkten Tracht und lächelte. Aber trotz des Lächelns war es ein trauriges Bild. Ich fragte mich, wie diese Kinder die schier endlosen Tage, Wochen und Monate verbracht hatten. Ich stellte mir vor, dass dieses Bild sie in einem der wenigen glücklichen Momente zeigte, in einem Leben, das insgesamt von Traurigkeit und Wut bestimmt war.
Aber ich irrte mich. Ich hatte keine Ahnung von der Stärke, die der Kindheit innewohnt, bis ich einen Mann kennenlernte, der in einer Eisernen Lunge gelegen hatte. Sein Name ist Richard Daggett. Ich habe ihn nie gesehen oder persönlich mit ihm gesprochen, aber ich habe das Gefühl, ihn dennoch gut zu kennen. In E-Mails und über das Internet hat er mir seine Geschichte erzählt, offen und ehrlich, mit sehr privaten und vertraulichen Einzelheiten.

Die Geschichte meines Romans wandert zwischen einer düsteren Wirklichkeit und einer – für einige vielleicht etwas schrulligen – Fantasiewelt hin und her. Mir ist es manchmal schwergefallen, mich von Jimmy, dem Riesentöter, und seinen Gefährten zu trennen und zu den Eisernen Lungen und den gelähmten Kindern zurückzukehren. Aber es war mir wichtig, auch dieser Fantasiewelt eine eigene Wahrheit zu geben. Ich be­völkerte sie mit Wesen aus den unterschiedlichsten Sagenkreisen. Es war nicht wichtig für mich, woher sie kamen – genauso wenig wichtig wie für Laurie Valentine, die die Geschichte von Jimmy zur Erheiterung der an Polio erkrankten Kinder erfand und mit den Kindern zusammen weiterentwickelte.