Brigitte Werner

Sie leuchtete irgendwie

Nr 216 | Dezember 2017

Es war Ende November, an einem kalten trüben Nachmittag. Es dunkelte bereits, und ein scharfer Wind fegte um die Ecke dieser leeren Straße, als neben mir plötzlich ein Fenster hell aufleuchtete. Ich sah eine kleine Hand eine schmuddelige Gardine etwas zur Seite schieben, und ein blondes Mädchen mit einer schiefen Brille, etwa sechs Jahre alt, schaute mich an. Ich schaute zurück. Meine schweren Einkaufstaschen hingen wie Kartoffelsäcke an meinen Händen, und ich verfluchte die Idee, zu Fuß zum Laden um die Ecke zu gehen, als sie etwas hochhob. Es war ein kleines Plastikschaf mit zerdrücktem Fell. Sie streichelte es und drückte ihm einen Kuss auf die Schnauze, dann drückte sie es an das Fenster und schaute mich an. Ich zögerte – sollte ich das Schaf nun auch küssen? Ich tat so, als ob ich es täte. Da strahlte sie, machte mir ein Zeichen, dass ich warten solle, und verschwand. Ich stellte die Taschen ab und war froh über diesen geschenkten Moment der Ruhe. Plötzlich wollte ich nichts mehr als nur dastehen und warten, nichts anderes tun als das. Einfach nur genau hier sein.
Jetzt wurde die Gardine energisch bis an den Rand der Fensternische gezogen. Das Mädchen hob einen Karton hoch. Sie rappelte damit, ich konnte es nicht hören, aber ich riss artig die Augen neugierig auf, da
lächelte sie, bückte sich nach unten und tauchte mit einem schiefen Vogelhäuschen ohne Wände wieder auf, an dem noch Körner klebten und Vogeldreck. Sie zeigte es mir und sagte etwas. Ich konnte es nicht verstehen, aber sie redete und redete, blickte immer wieder zu mir, und ich nickte dann zustimmend. Aus irgend­einem Grund war ich voller Vorfreude.
Aus den Tiefen des Kartons holte sie nun einen goldenen Papierstern, der auch schon bessere Zeiten gesehen hatte. Sie versuchte, ihn auf das Vogelhäuschen zu setzen, aber erst mit einem Haarclip blieb er oben. Ich hob anerkennend beide Daumen. Das Plastikschaf stellte sie links neben den Vogelhäuschenstall, und eine Barbiepuppe aus dem Karton bekam einen Taschentuchumhang und sah nun Maria täuschend ähnlich. Ich strahlte. Das Mädchen strahlte zurück und suchte nach Josef. Sie fand ihn. Josef war ein Playmobil-Männchen mit gelbem Bauar­beiterhelm. Alles klar. Er war neben Maria winzig, aber standhaft war er an ihrer Seite. War das nicht schon immer seine Rolle gewesen? Er tat es perfekt.
Und nun? Hirten, Engel, Christuskind? Zwei Minibären nahmen das Schaf in ihre Mitte, das war mit den Hirten einverstanden, die Bären sahen lieb aus. Und Engel? Keine Engel. Aber das Christuskind? Ich zeigte auf den leeren Vogelhäuschenstall und machte eine wiegende Bewegung. Sie verstand, krauste die Nase und kramte und kramte in dem Karton. Sie hob ein pinkfarbenes Brillenetui hoch. NEIN! Einen Flummiball. NEIN! Eine Glitzerhaarspange. NEIN! Ein grünes Plüschkrokodil als Schlüsselanhänger. NEIN! Ja? JA!! Das Krokodil hatte exakt die richtige Größe für den Vogelhäuschenstall, es passte haarscharf in die pinkfarbene Brillenetui-Krippe, es passte genau größengerecht zu seiner Mutter Maria, es lächelte das Schaf und seine Hirten lieb an und war nur eine Spur größer als sein weltlicher Vater Josef – aber das fanden wir okay. Nun ja, vor zweitausend Jahren war damals im Stall auch nicht alles perfekt gewesen.
Jetzt hob sie beide Daumen hoch, und ich klatschte leise Beifall, um das Krokodiljesuskind nicht aufzu­wecken. Sie verstand und hielt einen Finger vor den Mund. Sie leuchtete irgendwie. – Weihnachten konnte kommen. Alles war bereit.