Titelbild Hochformat

Frances Hardinge

Der Lügenbaum

Nr 217 | Januar 2018

gelesen von Simone Lambert

Faith ist die vierzehnjährige Tochter des anglikanischen Pfarrers Erasmus Sunderley, der sich als Naturwissenschaftler im viktorianischen England einen Namen gemacht hat. Wegen eines Betrugsskandals setzt sich der Reverend mit seiner Familie aus Kent nach Vane Island ab, um an einer Ausgrabung teilzunehmen. Als ihr Vater dort unter mysteri­ösen Umständen zu Tode kommt, ist Faith überzeugt, dass er ermordet wurde, und stellt heimlich Nachforschungen an.
Zentrales Motiv der Ereignisse ist der «Lügenbaum», den der Vater von einer Expedition aus China mitgebracht hat: eine Pflanze, die bei Lichteinfall augenblicklich verdorrt und nur in Dunkelheit gedeiht. Es ist die Verbreitung von Lügen, die sie wachsen lässt. Jedoch enthüllen ihre Früchte dem, der sie isst, Geheimnisse. Dieser Baum weckt die Begierden der Forscher, aber nur Faith weiß, wo ihr Vater die Pflanze versteckt hat. Sie bewundert und verehrt ihn noch immer, obwohl dieser ihre naturwissenschaftliche Begabung nicht ernst nahm und auch vor der Erniedrigung der Tochter und der Aberkennung von Schutz und Empathie nicht zurückschreckte. Der Tod ihres Vaters und damit der Zusammenbruch ihrer bisherigen Welt wecken in dem langweiligen, unsicheren Mädchen eine geradezu archaische Kraft und Wut, die sich in den Beschreibungen der felsigen Landschaft, von Unwettern und gefährlichen Meereswellen dramatisch spiegeln. Faith nutzt den Lügenbaum und geschickt platzierte Gerüchte, um die Stimmung auf der Insel anzuheizen und den Mörder aus der Reserve zu locken …
Trotz des Fantasymotivs ist dieses Buch eine präzise Schilderung des fernen Jahr­hunderts mit vielen klug recherchierten Details, von denen manche heute bizarr anmuten, wie die Leichenfotografie. Frances Hardinge erzählt vom Konflikt zwischen kirchlicher Weltsicht und den Erkenntnissen der Naturwissenschaft: Darwins Evolutionstheorie brachte die Vorstellungen vom Ursprung der Welt und des Lebens ins Wanken. In der Figur Sunderleys kommt diese Zerrissenheit zum Ausdruck. Der Reverend steht im Verdacht, Fossilien gefälscht zu haben, um zu belegen, dass in grauer Vorzeit die biblischen Nephilim, riesenhafte männliche Mischwesen, auf Erden gewandelt sind – eine verzweifelte Manipulation.
Eindrucksvoll vermittelt der Roman die Situation der Frauen. Faith ist zu Un­bildung und Passivität verdammt; Frauen sind unbedeutende Anhängsel ihrer Männer. Der Lügenbaum ist für Faith auch das Medium, das ihr die Wahrheit über das Leben der Frauen entdeckt: dass sie im Verborgenen ihre Interessen verfolgen, um ihre Intelligenz, ihre Willenskraft und ihre Liebe zu leben. Das hat mich wohl am meisten beeindruckt an dieser Geschichte: wie die Autorin die Entwicklung ihrer Protagonistin mit der allmählichen Enthüllung der Welt der Frauen verbindet. Und wie diese verleugnete Welt mit dem Tod des Vaters von Faith zusammenhängt…
Am Ende hat Faith selbstbewusst einen Plan für ihr Leben gefasst und, auf diese sperrige Weise, in der sich echte Gefühle manchmal mitteilen, einen Freund gewonnen, der sie in ihrer Art respektiert.
Der Lügenbaum von Frances Hardinge ist ein überwältigend schöner Roman mit lebendigen, ambivalenten Charakteren, dessen Sprache wortmächtig und motivreich dem 19. Jahrhundert Präsenz verschafft. Bislang das beste Buch der Autorin. Und eine fabelhafte Übersetzungsarbeit von Alexandra Ernst!