Ein weiter Raum

Nr 218 | Februar 2018

Liebe Leserin, lieber Leser

«Es war immer etwas da, das nicht da war», erzählt uns Simin Tander in unserem Gespräch. Früh fühlte die deutsch-afghanische Sängerin «noch ganz unbestimmt die Möglichkeit, etwas zu sein – wie ein weiter Raum», der auf sie wartete. Durch das Singen wurde ihr das bewusst.
Im Februar 1957 erscheint der erste Roman, The Comforters (Die Tröster), von Muriel Spark, der bedeutendsten schottischen Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts. Die in Edinburgh geborene Muriel Sarah Camberg, deren Vater jüdischen und Mutter calvinistisch geprägten Glaubens waren, hatte mit neunzehn – zur Zeit ihres ersten Mondknotens – den dreizehn Jahre älteren Mathematiklehrer Sydney Spark geheiratet und war mit ihm nach Rhodesien/Zimbabwe ausgewandert, wo sie erfuhr, dass ihr Ehemann unter einer schweren manisch-depressiven Erkrankung litt, die ihn auch gewalttätig werden ließ. Noch während des Krieges, 1944, schafft sie es, nach England zurückzukehren, schreibt Gedichte und literarische Artikel. 1953 wird Muriel Spark in der Anglikanischen Kirche getauft, aber schon 1954 konvertiert sie zum katholischen Glauben. Mit 37 Jahren – zur Zeit ihres zweiten Mondknotens also – schreibt die am 1. Februar 1918 Geborene ihren ersten Roman. Die ebenfalls zum Katholizismus konvertierte Hauptfigur, Caroline Rose – die dabei ist, eine literarische Abhandlung über «Die Form im modernen Roman» zu schreiben –, beginnt plötzlich eine gespenstische Schreibmaschine und Stimmen zu hören, die wortwörtlich ihre eigenen Gedanken wiedergeben. Es kommt ihr vor, wie wenn sie die Protagonistin eines im Entstehen befindlichen Romans eines unsichtbaren Autors sei. Nach vielen köstlichen Verwicklungen und einem glimpflich überlebten Autounfall gesteht Caroline einem Freund, wie sie zur Überzeugung gelangt sei, nicht nur eine Figur einer fiktiven Handlung zu sein: «‹Die Stimmen, Willi – seit ich im Krankenhaus liege, habe ich sie immer wieder gehört. Aber von einem bin ich inzwischen überzeugt› – dabei deutete sie auf ihr Bein, das unter dem Gipsverband leicht angeschwollen war und daher ziemlich schmerzte – ‹diese physischen Schmerzen haben mich überzeugt, dass ich nicht nur eine Romanfigur bin. Ich besitze ein selbstständiges Leben.›»

Es gibt Momente, in denen die Begegnung mit der Biografie eines anderen Menschen eine für mich unvergleichliche Intensität erhält. Es weitet sich der Raum, und der andere Mensch ist viel mehr, als er erscheint – ja, als er ist. Wie gut, dass es die Provokationen des Gewissens eines Klaus Staecks gibt, der am 28. Februar 1938, also vor achtzig Jahren, in Pulsnitz bei Dresden geboren wurde! Wie unermesslich dankbar bin ich auch für den Mut und die Offenheit von Birte Müller, die uns am Schicksal mit ihrem Willi ein wenig teilhaben lässt! – Im weiten Raum der Biografie eines Menschen erfahre ich Gott.

Von Herzen grüßt Sie, Ihr

Jean-Claude Lin