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Astrid Frank

Enno Anders. Löwenzahn im Asphalt

Nr 218 | Februar 2018

gelesen von Simone Lambert

In seinen Geschichten vom fernen Planeten Mamojusave, die er als Briefe an seinen verstorbenen Großvater schreibt, ist Enno nicht nur normal, sondern erwirbt sich als Er­forscher der menschlichen Spezies sogar Verdienste. Der Elfjährige fühlt sich fremd in der Welt, die ihn umgibt. Enno ist schwach in der Schule, weil er leicht ablenkbar ist, seinen eigenen Gedanken nachhängt und danach handelt, statt situationsbezogen und erwartungsgemäß zu reagieren. Es sind vor allem die erziehungsberechtigten Frauen, die dafür kein Verständnis haben: Seine Lehrerin Frau Wolf droht damit, keine Gymnasial­empfehlung auszusprechen. Und Ennos Mutter reagiert gereizt und ungeduldig auf jede seiner Ungeschicklichkeiten. Sie befürchtet eine Entwicklungsschwäche, die seine Zukunft in Frage stellen könnte. Sein Vater verteidigt ihn zwar, als Enno einen Streit der Eltern belauscht, doch er bleibt im Hintergrund und kann die Zweifel seiner Frau an ihrem Sohn nicht zerstreuen. Das fehlende Vertrauen seiner Mutter schmerzt Enno. Vor Trauer und Verzweiflung weint er nachts in seine Kissen.
Der Leser aber findet rasch sein Ver­gnügen an der frischen, aufrichtigen und fantasievollen Art, mit der Enno, der Ich-Erzähler in Astrid Franks lesenswertem Kinderbuch, seine Erlebnisse beschreibt, denn Enno hat Humor und Ideen. Kleinste Be­obachtungen und Geräusche setzen seine Vorstellungswelt in Gang, die er mit treffenden Worten wiedergeben kann. Unstimmigkeiten, beispielsweise im Verhalten der Erwachsenen, nimmt er präzise wahr.
Detailliert und emotional erzählt er von seiner Not; er verarbeitet seine Sorgen sprachlich. Regina Kehns Illustrationen greifen Motive aus Ennos Fantasiewelt auf und verleihen ihnen Würde und Tiefe.
Seine einfallsreichen Geschichten von Mamojusave, abgesetzt in orangener Schrift und mit allen orthografischen Fehlern wieder­gegeben, wagt Enno seiner Mutter nicht zu zeigen. Die rät ihm ungefragt von der Teilnahme an einem Schreibwettbewerb ab, weil er kein richtiger Schriftsteller sein kann, ungebildet und rechtschreibschwach wie er sei. Ob das fehlende Einfühlungsvermögen und die ausbleibende Gelassenheit dem allgemeinen Leistungsdruck geschuldet oder in der Persönlichkeit der Mutter ver­ankert ist, bleibt offen. Einzig sein bester und einziger Freund Olsen, ein hochbe­gabtes Kind mit robusterer Natur, hat keine Probleme mit Ennos Wesen. Dagegen hat Olsen eigene Schwierigkeiten, bei denen ihm Enno durchaus beistehen kann.
Als die Rede davon ist, dass Enno auf eine Förderschule geschickt werden soll, eskaliert die Situation. Ein Psychologe dia­gnostiziert eine normale Intelligenz bei Enno, attestiert aber auch eine besondere Sprachbegabung und vor allem Hochsensibilität. Enno ist erleichtert, seinen Gefühlen endlich trauen zu dürfen. Doch seine Mutter findet erst dann ihr Vertrauen in ihren Sohn zurück und unterstützt ihn gegenüber der Lehrerin, als Ennos Geschichten um Mamojusave einen Verleger finden und damit öffentliche Anerkennung – Olsen hatte heimlich das Manuskript eingesandt.
Astrid Franks Roman ist ein spannendes und anrührendes Porträt eines Jungen, der ver­unsichert ist durch die Erwartungen, die an ihn gerichtet sind. Dass es Freundschaft ist, die ihn rettet, birgt eine besondere Botschaft: Unser eigenes Leben wird es erst durch die Unterstützung der Menschen, die wir uns wählen. Ausgezeichnet mit dem Zürcher Kinderbuchpreis.