Erquicklicher als Licht?

Nr 219 | März 2018

Liebe Leserin, lieber Leser!
«Verwirrungen und Missverständnisse sind die Quellen des tätigen Lebens …», sagt an einer Stelle «der Alte» in Goethes relativ wenig bekannten Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten und fügt hinzu: «… und der Unterhaltung.» Es ist ein feiner Zug der deutschen Sprache, dass sie ein Wort zur Verfügung stellt, das sowohl die Bedeutung des englischen Wortes «Entertainment» wie auch des Wortes «Gespräch» beinhaltet. Shakespeare wusste von diesem Gesetz des «tätigen» menschlichen Lebens in seinen Komödien köstlichen Gebrauch zu machen – und so unterhielt er auch seine Zeitgenossen und unterhält uns Nachgeborene nicht minder auf die herrlichste Art.
Goethe nun folgte der Einladung Schillers, etwas für die als Gegengewicht zum gewaltsamen Ausbruch der Französischen Revolution gedachte literarische Bildungszeitschrift Die Horen beizutragen. So erschienen in der Zeit von Januar bis Oktober 1795, neben Schillers «Briefen» Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Als letzte «Lieferung» dieser Unterhaltungen erschien im «10. Stück» der Horen im Oktober 1795 Goethes Märchen. Am 4. Dezember 1795 schrieb Wilhelm von Humboldt an Friedrich Schiller über das Märchen: «Die Leute klagen, dass es nichts sage, keine Bedeutung habe, nicht witzig sei usw., kurz, es ist nicht pikant, und für ein leichtes schönes Spiel der Phantasie haben die Menschen keinen Sinn. Im Ganzen finde ich auch hier unser altes Urteil bestätigt. Es wird entsetzlich wenig gelesen. Das meiste nur angegafft und durchblättert.»
An einer Stelle in diesem oft als überaus verwirrendes Rätsel empfundenen Märchen gelangt die darin vorkommende «schöne grüne Schlange» in eine unterirdische Rotunde und erblickt die Bildsäule eines goldenen Königs, der «zu reden anfing und sagte: Wo kommst du her? – Aus den Klüften, versetzte die Schlange, in denen das Gold wohnt. – Was ist herrlicher als Gold?, fragte der König. – Das Licht, antwortete die Schlange. – Was ist erquicklicher als Licht?, fragte jener – das Gespräch, antwortete diese.»
Aber warum das Gespräch «erquicklicher» als das Licht sei, dazu gibt Goethes Märchen selbst keine Antwort. Dafür müssen schon seine Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten gelesen werden.* Sie bilden den Weg zur
«Offenbarung», wie Prinz August von Gotha das Märchen Goethes durchaus im Sinne des Apokalyptikers Johannes empfand.

Erquickliche Unterhaltungen wünscht Ihnen in diesem März
von Herzen, Ihr
Jean-Claude Lin