Titelbild Hochformat

Monika Kiel-Hinrichsen

Familie im Fokus III

Nr 219 | März 2018

Familienzuwachs: Vom Thron gestürzt

Jannik hat sich heute zum fünften Mal wütend auf den Boden geschmissen und seine Mutter mit den Füßen getreten, als sie sich ihm näherte. Anlass war stets das laute Schreien seines kleinen Bruders. «Jannik, was hast du jetzt schon wieder gemacht?», ist Tanja leider auch ab und an herausgerutscht. Seit Theo laufen kann, ist bei ihnen zu Hause «die Hölle» los. Andere Mütter hatten ihr bereits von den stärksten Eifersuchtsszenarien erzählt, und sie war insgeheim erleichtert darüber, wie gut es bei ihnen lief – zumindest bis jetzt.
Jannik hatte nach der Geburt von Theo zwar mit Schlafproblemen und starker Anhänglichkeit reagiert, doch darauf waren sie vorbereitet. Jakob und sie haben vermehrt kleine Auszeiten mit Jannik geschaffen, in denen er sich entspannen und sich ihrer Nähe und Liebe vergewissern konnte. Eigent­lich hat er sich seinem Bruder gegenüber liebevoll verhalten, ihn gerne gefüttert oder sich zu ihm ins Bettchen gekuschelt. Zwar gab es auch kleine Übergriffe wie Kneifen, aber seine Eltern hatten den Eindruck, dass er damit ausgetestet hat, wie so ein Winzling darauf reagiert.
Wie anders ist es heute! Jannik erlebt seinen kleinen Bruder als echten Störenfried. Kaum hat er sich seine Eisenbahn aufgebaut, kommt Theo und tritt mitten in alles hinein. Empört trägt Jannik ihn zurück in seine Spielecke. Dabei schreit Theo so laut, dass Mama denkt, er hätte ihn gehauen. Nichts kann er mehr ohne ihn tun! Ja – und alle Aufmerksamkeit richtet sich auf Theo. Wie toll er alleine gehen kann, was er schon alles tragen kann, und immer soll Jannik ihn mitspielen lassen. Er will das nicht mehr. Nein, er will lieber wie früher nur Mamas und Papas Kind sein. Theo soll weg sein, am liebsten gar nicht geboren sein! Jannik brüllt es wütend aus sich heraus.
Tanja ist erschrocken über diesen Ausbruch und ahnt, dass Jannik seinen «alten Thron» zurückhaben möchte. Hat sie etwas falsch gemacht? Muss er nicht lernen, Rücksicht auf seinen kleinen Bruder zu nehmen und zu teilen? Mischt sie sich vielleicht zu schnell bei den Auseinandersetzungen der beiden ein? Ihr ist aufgefallen, dass Theo bereits einen «Alarmton» gefunden hat, auf den sie reagiert und wirklich denkt, dass Jannik ihn zu hart anfassen könnte. Aber sie weiß intuitiv: Wenn sie sich zu stark einmischt, gibt es schnell Opfer- und Täterrollen.
Neulich hat ihre Freundin einen Satz gesagt, der sie nachdenklich gestimmt hat: «Sozialisation fängt im Kinderzimmer an.» Sie hat ihr von der Bedeutung der Ge­schwisterfolge erzählt. Demnach muss Jannik lernen, sein «Revier» zu verteidigen, und Theos Aufgabe ist es, sich als Zweitgeborener seinen Platz zu erobern. Ein erstgeborenes Kind lernt auf spielerische Weise, indem es seine Grenzen setzen darf, sein Geschwisterkind liebevoll zu führen, ein bisschen Schäfer seiner Ge­schwister­schäfchen zu werden. Muss es sich allerdings auch noch gegen seine Eltern ver­teidigen, kann aus dem Potenzial eines Schäfers schnell ein Wolf werden, der, in die Enge getrieben, von allen gefürchtet wird.
Tanja nimmt sich vor, am nächsten Tag genauer hinzuschauen und -zuhören, wie es zum Konflikt zwischen ihren Söhnen gekommen ist. Dabei möchte sie lernen, ihr Augenmerk darauf zu richten, was welches ihrer Kinder gerade braucht, um heraus­zufinden, warum Jannik gerade wieder so wütend ist oder Theo so unbändig neugierig. Bestimmt wird sie gemeinsam mit ihnen eine Lösung finden.
Und manchmal darf ein Konflikt zwischen Geschwistern auch ruhig mal eskalieren, wenn keiner ernsthaft gefährdet ist, denn soziales Lernen soll ja bereits im Kinder­zimmer beginnen!