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Olaf Koob

Mit welcher Haltung schlafen wir ein?

Nr 219 | März 2018

Das menschliche Leben besteht aus drei sich abwechselnden Bewusstseinszuständen – aus dem Wachen, dem Schlafen und dem Träumen. Die Träume als eine Art Zwischenglied von Wachen und Schlafen waren in der älteren Menschheit ein wichtiges Erkenntnisfeld und spielten sogar bei Lebensentscheidungen eine bedeutende Rolle. Doch dann geriet ihre Bedeutung und Deutungskraft in Vergessenheit. Erst durch die (Wieder-) Entdeckung des sogenannten «Unterbewusstseins» Ende des 20. Jahrhunderts hat man auf verschiedene Weise versucht, die Träume durch wissenschaftlich-analytische Methoden zu interpretieren und zu systematisieren.
Die Frage besteht natürlich, ob Träume wirklich rein (natur-)wissenschaftlich zu deuten sind oder ob sie auch Botschaften einer über den Menschen hinausragenden geis­tigen Welt enthalten können? Die vermeintlich strikte Trennung von Tag und Nacht, Bewusstsein und Unterbewusstsein, physisch und geistig etc. wird heute durchlässiger, was man an diversen Erlebnissen beobachten kann, wie sie etwa Jean Marc Buller im Buch von Barbara Hahn, Endlose Nacht: Träume im Jahrhundert der Gewalt, beschreibt: «Ich habe im Traum seltsame Dinge gesehen, die sich weder durch Phantasie noch durch Unter­bewusstsein erklären lassen. Dinge, die – während ich sie träumte – viele Meilen entfernt wirklich geschahen. Natürlich nicht nachweisbar. Beweise gibt es auf solchem Gebiet niemals. Doch was ich in einem bestimmten Schlafzustand erlebt habe, ist für mich der völlig ausreichende Beweis für das Vorhandensein eines riesigen, nebelförmigen Bewusstseins, einer Art umherschwebenden Weltgewissens, an dem teil­zuhaben uns im Schlaf, in be­sonderen, außergewöhnlichen Nächten vergönnt ist. In solchen Nächten gelangen wir aus dem plombierten Wagen wirklich hinaus, vermögen wir endlich über die Böschung hinüberzusehen.»
Wir nehmen bei diesen Erlebnissen wohl nachts an einem objektiven Weltgewissen teil – wir schauen und wir werden angeschaut. Das kann unser ganzes «nüchternes» Tagesleben bestimmen, wenn wir jede Nacht, bewusst oder unbewusst, Teilnehmer einer höheren, umfassenden Wirklichkeit sind.
Jede Nacht kommen wir aus unserem «plombierten Wagen» heraus und nehmen somit teil an einem menschheitlichen Ganzen, das nicht nur unser individuelles Leben betrifft, sondern zu dem gehört, was in der Welt an Gefühlen, Gedanken und Taten produziert worden ist und was nun auch unseren individuellen Schlaf bestimmt. Nicht immer sind unsere Träume von «Gewalt, Obszöni­täten und Verruchtheit» die unseren, sondern können, wie Primo Levi 1977 schrieb, durchaus, «allen Freudianern zum Trotz, von den Monstern der anderen herstammen …».
Der Traum als Mittler zwischen Ober- und Unterwelt, Himmel und Hölle, Lebenden und Verstorbenen hat eine andere Dimension angenommen, seit durch die schrecklichen Ereignisse im 20. Jahrhundert diese strikte Trennung ins Wanken geraten ist: Die Welt der Toten brach ins Leben ein und beeinflusste unser Bewusstsein und damit auch unsere Schlaf- und Traumzeit.
Nietzsche, der an der Schwelle des 20. Jahr­hunderts (1900) starb, hat in seiner unnachahmlichen Art, ähnlich wie Franz Kafka, diese Ereignisse schon ahnend vorweggenommen. In seinem Werk Menschliches, Allzumenschliches sieht er den Ursprung aller Metaphysik in der Erfahrung des Traumes in früheren Kulturen und damit die Scheidung der Welt in zwei Ebenen: die des traumer­füllten Schlafes als die Welt der Verstorbenen und auch der Götter und die Welt der Lebenden: «Träumen – ein Modus, in dem sich den Lebenden Blicke in die andere Welt eröffnen.»
Aktuell wird (wieder) viel von Achtsamkeit geredet und geschrieben, um die Ereignisse in und um uns verstärkt wahrzunehmen oder zu erleben. Haben wir einmal die Bedeutung von Schlafen und Träumen als wichtigste Quelle für unser alltägliches tätiges Handeln und unsere seelische und körper­liche Gesundheit erkannt, werden wir jeden Abend mit einer völlig anderen Haltung in den Schlaf gehen.