Christa Ludwig

War das Wort zuerst Gesang?

Nr 221 | Mai 2018

Waren es Ziegen oder Hunde? War es Schmerz oder Angst? War es die Vernunft oder der Körper? War es Gott oder die Natur? Waren es Frauen oder Männer? Wenn man die Frage stellt, wie Sprache entstand, dann gibt es so viele Antworten und Spekulationen wie Sprachen auf der Erde. Es ist darum un­sinnig, hier eine Antwort finden zu wollen, aber es ist faszinierend, den Spekulationen zu folgen.

Ziegen oder Hunde?
Schon vor ungefähr 2500 Jahren wollte Pharao Psammetich es genau wissen: Welches ist die Ursprache? Die Mutter aller Muttersprachen? Einem Ziegenhirten wurden zwei Säuglinge übergeben, die er zusammen mit seinen Ziegen versorgte, in deren Gegenwart er aber nicht sprechen durfte. Nach zwei Jahren begrüßten die Kinder den Hirten mit bekos, dem phrygischen Wort für Brot. Verwundert nahm der Pharao zur Kenntnis, dass Phrygisch die Ursprache sei. Es ist jedoch sehr viel wahrscheinlicher, dass hier die Ziegen phrygisch sprachen und die Kinder deren Meckern nachahmten. Aber kann man darum folgern, dass Sprache aus Nachahmung von Tier­lauten entstand wie die Vertreter der Wau-Wau-Theorie es tun? Ich glaube es nicht.

Schmerz oder Angst?
Die Ursprache habe sich aus Urlauten entwickelt, so nimmt die Aua-Theorie an. Wenig überzeugend. Vom Laut zur Sprache ist der Weg komplexer. Wenn eine Katze sich den Schwanz einklemmte, schreit sie seit zigtausend Jahren Mi-aua, sprechen haben diese ansonsten so ausdrucksstarken Tiere bis heute aber nicht gelernt.

Vernunft oder Körper?
Herder geht in seiner Sprachphilosophie davon aus, dass der Mensch als vernunftbegabtes Wesen die Sprache erfinden musste. Dann müsste Sprache von Anfang an Gedanken zum Inhalt gehabt haben.
Andere vertreten die Ansicht, dass sich aus rhythmischen Bewegungen des Körpers der Impuls entwickelte, adäquat begleitende Laute zu äußern – Tanz steigert sich zu Gesang. Jetzt wird es spannend! Haben Menschen vielleicht gesungen, bevor sie sprachen?

Gott und die Natur?
Rudolf Steiner meint, dass in vorsprachlicher Zeit vor allem Frauen lernten, auf Klänge der Natur zu lauschen, auf Wind, Wasser, Bäume, dass sie aus Wehen, Plätschern, Rauschen, rhythmische und lautliche Rituale entwickelten. Erste Natur­religion, vorerste Sprache.
Das scheint mir so spekulativ wie nicht nachweisbar und einleuchtend.
Um nicht weiter zu spekulieren, mache ich einen Salto zurück zu Pharao Psammetich. Dem Stauferkaiser Friedrich II. (1194–1250) wird ein ähnliches Experiment bei der Suche nach der Ursprache nachgesagt. Er habe zwanzig Neugeborene Ammen übergeben, die die Kinder gut zu versorgen hatten, aber weder mit ihnen reden noch Gefühlsäußerungen zeigen durften. Alle Kinder starben. Ach, sie hatten keine Ziegen, die sie meckernd stupsten und ihnen die kleinen Gesichter leckten …?

Und nun wage ich es, selber zu spekulieren: Wenn die Ammen hätten sprechen dürfen, aber kühl, ohne jede Zuwendung, so wären die Kinder auch gestorben. Sprache ist im Ursprung nicht Vermittlung von Gedanken, Sprache ist (spekulative These!) die Weiterentwicklung der Stimmfühlungslaute, die ersten Worte bedeuteten: «Wo bist du, mein Kind?»
Könnte es so begonnen haben? Und könnte es nicht sein, dass es immer noch so ist? Der hochintelligente Autist Birger Sellin lernte nicht sprechen, aber schreiben. Der erste verständliche Satz, den er in die Tasten tippte, galt seiner Mutter: «Ich hab dich lieb, ja.» Das ist Anfang und Ende der Sprache. Und alles, was der Mensch dazwischen aus Sprache gemacht hat, kann man reduzieren auf: Oh! Aha! Ach …