Titelbild Hochformat

Jean-Claude Lin

Schauen und sprechen

Nr 221 | Mai 2018

Am Ende der abendländischen Philosophie­entwicklung war es für den jungen Ludwig Wittgenstein eine schwer erkämpfte Einsicht geworden: «Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.» Am Anfang der Philosophie heißt es vom alten Platon, er habe eine ungeschriebene Lehre gehabt, deren Inhalt er in keiner Schrift hätte zum Ausdruck bringen können. Durch seine Anthroposophie hat Rudolf Steiner nicht geschwiegen. Aber auch er hatte sich zuvor viele Jahre gefragt, ob er über seine geistigen Schau­ungen schweigen müsse.
Einmal, berichtet Rudi Lissau, wurde Steiner gefragt, ob es heute auch andere Menschen gebe, deren Einsichten mit seinen vergleichbar wären. Er bejahte die Frage. Aber sie könnten ihre Erlebnisse nicht in Worte fassen, fügte er hinzu. – Das Problem kehrt immer wieder: Wie ist Göttliches, geistig Erschautes, Übersinnliches und «Unaussprechliches» in irdische Worte zu fassen?
Dass gerade ein intimer Kenner der Anthroposophie wie Rudi Lissau diese Frage jahrzehntelang bewegt hat, ist beachtens­­-wert – und wohl biografisch nicht zufällig. Am 26. Juni 1911 kam Rudolf Lissau in Wien zur Welt. Beide Eltern waren jüdischer Herkunft. Der Vater hatte mit seinem Bruder und sechs anderen eine Gruppe der Theo­sophischen Gesellschaft in Wien begründet. Rudi Lissau begegnete Rudolf Steiner mehrmals im Leben. Mit sechzehn Jahren begann seine lebenslange Vertiefung in die «Wochensprüche» des Anthroposophischen Seelenkalenders und damit sein eigenes anthroposophisches Studium. Nach seiner Promotion in Germanistik unterrichtete er am Blinden­institut Hohewarte in Wien, wo er auch Sigmund Freud kennenlernte.
Als die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen, wurde es seiner Verlobten Hedda Förster bange um ihn, war er doch durch seine jüdische Herkunft gefährdet. An dem Tag, an dem Hitler in Österreich Fuß fassen sollte, würde er das Land verlassen, versprach Rudi Lissau – und hielt Wort. Im März 1938 verließ er Österreich und lebte fortan mit Hedda in England. Auch dort unterrichtete er zunächst in einem Blindeninstitut, bevor er Ende 1940 an eine der ältesten Waldorfschulen im Westen Englands, nach Wynstones, wechselte. Über 50 Jahre war er dort als Lehrer tätig. Parallel dazu vertiefte er sich weiter in Leben und Werk Rudolf Steiners und war in England und im Ausland innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft aktiv.
Den Charme und das sensible Stilgefühl des Wieners hat er nie verloren, aber er hat sich auch Ansätze und Perspektiven seines Gastlandes zu eigen gemacht. So bildet diese Vermählung – Wiener Geistigkeit mit eng­lischer Empirie – den Hintergrund für die lebenslange Frage Rudi Lissaus nach dem Verhältnis übersinnlicher Wahrnehmung und Sprache. Seine vielschichtigen Erkundungen dazu im Werk Rudolf Steiners gaben hierbei die Anregung, den Band Geistige Schau und irdischer Ausdruck herauszugeben.
Im Vortrag vom 7. Mai 1912 in Köln spricht Rudolf Steiner über die Gleichnishaftigkeit alles Irdischen. Es muss nur gelernt werden, alle Erscheinungen im Irdischen als Ausdruck von Geistigem richtig zu lesen.
Am 26. Mai 1914 gibt Rudolf Steiner in Paris eine für seine Verhältnisse sehr überraschende persönliche Schilderung seiner eigenen geistigen Forschung. Hier wird ein Hauptmotiv der Erörterungen Rudi Lissaus konkret von Rudolf Steiner beschrieben: Wie geistige Erkenntnis in der Verbindung mit einem anderen Menschen zustande kommt.
Schließlich schildert Steiner in seinem Aufsatz aus dem Jahr 1918 über «frühere Geheimhaltung und jetzige Veröffentlichung übersinnlicher Erkenntnisse», warum es zunächst die scharfe Grenze zwischen dem geistig zu Erschauenden und irdisch Aus­drück­baren gibt und unter welchen Umständen es zulässig und notwendig ist, diese Grenze zu überschreiten. – Insbesondere dieser Aufsatz ist in seiner grundlegenden
Bedeutung für den Umgang mit Geistes­wissenschaft und irdischem Leben noch wenig beachtet und verarbeitet worden.