Der Fall Adessiv

Nr 222 | Juni 2018

In seiner Predigt bei einer Trauung erzählte der Pfarrer von einer Besonderheit der afrikanischen Sprache Suaheli: Es gibt kein Wort für «haben» im Sinn von «besitzen». Im Gegensatz zu dem vor ihm sitzenden Bräutigam könne ein afrikanischer Mann dieser Sprachgruppe daher niemals sagen: «Ich habe eine Frau.» Er wird immer sagen: «Ich lebe mit einer Frau.» Ebenso wenig würde er sagen: «Ich habe ein Haus.» Sondern: «Ich lebe in einem Haus.» So besitzt er auch kein Feld, keinen Hund, keinen Ochsen – er lebt damit.
Ich war fasziniert, wollte mehr darüber erfahren, doch alle meine Recherchen über Suaheli haben diese besondere Sprachgruppe innerhalb des Kisuaheli nicht gefunden. Aber andere! Erstaunlich!
«Für jene, die glauben, dass ‹haben› eine höchst natürliche Kategorie innerhalb der menschlichen Existenz ist, mag es über­raschend sein, wenn sie erfahren, dass es in vielen Sprachen kein Wort für ‹haben› gibt», schrieb der deutsch-amerikanische Philosoph Erich Fromm. – Wie ist es möglich, dass eine Sprache diesen für uns derart zentralen Inhalt nicht benennen kann? Das war so zum Beispiel im Keltischen, Gälischen. Wie lebten die Menschen damals? Und wieso findet sich dieser Mangel – wenn es denn ein Mangel ist – auch bei zwei heutigen Sprachen, und zwar in der EU?
Sprache ist immer Ausdruck einer Gesellschaft. Wenn es kein Wort für besitzen gibt, dann muss man dort eine andere Einstellung zum Besitz annehmen. Wie können wir uns das in unserer Gesellschaft überhaupt vor­stellen? Wenn jemand ein Haus baut, dann ist es also keineswegs selbstverständlich, dass er dieses Haus besitzt. Wenn jemand nur haben kann, was bei ihm ist, dürfte ein Anhäufen von Besitztum kaum vorstellbar sein, da man es sprachlich nicht festschreiben kann. Teilen sollte leichter fallen. Aber die Kelten trieben doch Handel? Gegenstände wechselten ihre Besitzer. Und das mussten sie doch aus­drücken können. Konnten sie! Nur sagten sie nicht: «Ich habe ein Pferd», sondern: «Bei mir ist ein Pferd.» Eine Zugehörigkeit, das reichte aus. Reicht es aus? So kann man leben – und in der EU?
In den beiden heutigen Sprachen, die ohne das Wort besitzen auskommen, gibt es den Fall (Kasus) Adessiv. Beneidenswert!
Wir beklagen den Verlust des vom Dativ gemordeten Genitivs und die haben einen Adessiv! Das ist abgeleitet von lateinisch adesse – dabeisein. Und dieser Kasus bezeichnet wie im Keltischen die Zugehörigkeit. Aber kann denn jemand, der gerade mit seiner Yacht (bei mir ist ein Schiff) auf dem Weg von seinem Landhaus (bei mir ist ein Haus) an der Costa del Sol zu seiner Villa (bei mir ist noch ein Haus) auf den Kanaren ist, seinem Gast den eigenen Wein (bei mir ist ein Weinberg) aus dem Duerotal einschenken und von seinen Konten (bei mir ist viel Geld) in der Schweiz berichten?
Im Keltischen gab es diese Probleme so nicht, aber doch in der EU! Wo? Es ist nicht schwer zu erraten: die beiden einzigen hiesigen Sprachen, die nicht in den europäischen, nicht einmal in den indogermanischen Sprachraum gehören, sind das Ungarische und das Finnische. Die also leben mit dem Adessiv. Ungarn! Im Umgang mit Flücht­lingen und Fremden fällt dieses Land derzeit nicht gerade durch große Bereitschaft zum Teilen auf. Ist es vielleicht heute nicht mehr wichtig, was die eigene Sprache bietet, weil wir so viele zur Verfügung haben und letztlich doch alles Englisch ist? Dann wäre dieser Gewinn ein schrecklicher Verlust.
Das muss nicht so sein! Geben wir den Ungarn ihren Adessiv zurück, indem wir ihn übernehmen! Das dürfen wir, denn sie haben ihn ja nie besessen, er ist bei ihnen, er kann auch bei uns sein! Versuchen wir doch mal, einen Tag oder länger auf das Wort besitzen und alles, was damit zusammenhängt, zu verzichten. Mal sehen, was geschieht. …