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Livia Bitton-Jackson

1000 Jahre

Nr 222 | Juni 2018

Was verbirgt sich hinter dem Titel meines Buches 1000 Jahre habe ich gelebt? Wie ist er entstanden? – Am 30. April 1945 wurden meine Mutter und ich von der amerikanischen Armee aus der deutschen Gefangenschaft befreit. Ich weiß nicht, wohin die Deutschen uns in diesen letzten Kriegstagen schicken wollten, aber unsere Befreier holten uns aus den Viehwaggons, in die man uns eingepfercht hatte, und durchkreuzten ihre Pläne. Mehrere amerikanische Offiziere gingen in die nahe gelegene Stadt und holten Mitglieder der lokalen Elite aus ihren Häusern, um ihnen den schockierenden Anblick der wie Skelette aussehenden Häftlinge zu präsentieren, die neben den Gleisen lagen.
Eine Deutsche mittleren Alters kommt auf mich zu.
«Wir haben ja von nichts gewusst. Wir hatten doch keine Ahnung. Sie müssen mir das glauben. Haben Sie auch so hart arbeiten müssen?»
«Ja», flüstere ich.
«In Ihrem Alter war das sicherlich schwierig.»
In meinem Alter? Was meint sie damit?
«Wir haben kaum etwas zu essen bekommen. Es war schwierig wegen des Hungers, nicht wegen des Alters.»
«Ich meinte, es ist bestimmt besonders schwierig gewesen für ältere Menschen.»
Für ältere Menschen? «Was denken Sie, wie alt ich bin?»
Sie mustert mich zögernd. «Sechzig? Zweiundsechzig?»
«Sechzig? Ich bin vierzehn. Vierzehn Jahre.»
Sie schreit auf und bekreuzigt sich. Entsetzt und ungläubig geht sie wieder weg und verschwindet in der Gruppe der Seeshaupter Bürger. Da ist sie also, die Befreiung. Sie ist da. Ich bin vierzehn Jahre alt, und tausend Jahre habe ich gelebt.

So wurde der Titel meines Buches geboren. Schreiben ist für mich ein Grundbedürfnis. Wie Trinkwasser an einem heißen Sommertag. Wie frische Luft zum Atmen. Seit ich ein kleines Kind war, habe ich jeden Tag geschrieben, und mit acht Jahren begann ich, regelmäßig Tagebuch zu schreiben. Es verging kein Tag, ohne dass ich aufschrieb, was während des Tages geschah.
Selbst in den deutschen Konzentrationslagern gelang es mir immer wieder, einen Bleistift in meinem Schuh zu verstecken und irgendwie an Papier heranzukommen. So schrieb ich heimlich alles nieder, was ich tagsüber erlebt hatte, und hielt abends meine letzten Gedanken vor dem Schlafengehen schriftlich fest.
Meine erste große schriftliche Arbeit war meine Doktorarbeit über den Zionismus in Ungarn zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In dieser Arbeit habe ich mich mit dem großen historischen Wandel in Ungarn beschäftigt, dessen Resultat zusammengefasst werden kann in der Aussage: Vom Judentum als Religion zur Nationalität. Das liegt nun schon viele Jahre zurück … Meine Arbeit behandelte auch Leben und Werk Theodor Herzls, des modernen Propheten des Zionismus und des Staates Israel. Herzls Lebensgeschichte ist erstaunlich – und den wenigsten Menschen wirklich bekannt.
Mein nächstes Schreibprojekt war die Geschichte des tragischen Schicksals meiner Familie während des Zweiten Weltkriegs. Ich hatte das Glück, dass es in den USA von niemand Geringerem als dem Verlag der New York Times veröffentlicht wurde. Das Buch wurde in 11 Sprachen übersetzt, unter anderem auch ins Japanische, und wurde vielfach ausgezeichnet. Dadurch fühlte ich mich veranlasst, auch über die weiteren Etappen meines Lebensweges zu schreiben.
Heute lebe ich – nach vielen Jahren in den USA und 37 Jahren an der Universität von New York – in Jerusalem, von wo aus ich Ihnen diese Zeilen in meinem 88. Lebensjahr schreiben darf.