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Bärbel Kempf-Luley

Schreiben ist wie Atmen und Essen

Nr 224 | August 2018

Auf der Buchmesse in Leipzig wurde ich von einer Schülergruppe zu meiner «Arbeit am Buch» befragt. Seither höre ich diese Frage immer wieder. «Arbeit am Buch?», denke ich verblüfft, und mir wird ein bisschen unbehaglich. Ich habe gar nicht das Gefühl «an einem Buch gearbeitet» zu haben.
Arbeit. Da denke ich «im Schweiße deines Angesichts», an Ernsthaftigkeit und etwas Schweres.
«Oh, ich muss jetzt dringend an meinem Buch arbeiten», sagt die Autorin mit ernster Miene und entfleucht in ihr Schreibrefugium. Die Oma seufzt. Und fragt sich, ob sie jetzt zugeben darf, dass Schreiben für sie Freude, Spaß und Spiel ist? Oma runzelt die Stirn. – Ja, das darf sie. Sie ist zu alt, um so tun, als ob …
Seit ich schreiben kann, schreibe ich. Mein Schreibtisch ist manchmal tatsächlich ein Schreibtisch. Viel öfter aber ein Küchentisch, ein Cafétischchen, ein Bus- oder Zugsitz – und noch häufiger die eigenen Knie, die im Wald, am See oder sonstwo als Schreibunterlage fungieren. Schreiben ist mir eine Notwendigkeit wie Atmen und Essen. Es ist einfach ein Teil meines Lebens.
Manchmal schreibe ich mich in etwas hinein. In einen Phantasieraum, eine Geschichte. – Manchmal schreibe ich mich aus etwas heraus. Aus Ängsten, Unsicherheit, Kummer …
Es gibt ein Befindlichkeitsschreiben und ein Vergnügungs- oder Spaßschreiben.
Im Herbst 2015 war es beides. Ich war an einem absoluten Tiefpunkt meines Lebens angelangt und hatte nicht die leiseste Ahnung, wie es weitergehen sollte. Es war buchstäblich alles weggebrochen. Zurück auf null. Wie bei Monopoly: «Gehe nicht über Los, ziehe nicht …» (Wie viel zieht man heute bei Monopoly eigentlich ein?)
Nachts wachte ich um 4 Uhr auf – und sofort drehte sich das Karussell in meinem Kopf. Ich bin dann mitten in der Nacht zu langen Wanderungen aufgebrochen, habe meinen Umzug in den Nächten organisiert, und irgendwann habe ich in den Nacht- und Frühmorgenstunden geschrieben.
Eines Morgens im Wald fielen mir nacheinander ganz viele Szenen mit meiner Enkelin Nora ein. Ich stand im düster-nebeligen Wald und musste lauthals lachen. Dieses Kind hat mein Leben völlig auf den Kopf gestellt. Mit ihr waren die Tage voller Augenblicke, ohne Gestern und Morgen. Nur jetzt. Der Augenblick zählt.
Mit ihr war es lebendig (und ist es noch!), die Welt ein Abenteuer. Wir können miteinander albern, lachen, spielen und zuweilen auch streiten und dickköpfig sein.
Manchmal sind wir zwei Kinder. Wenn Nora aber die Erwachsene in mir braucht, sind wir Oma und Enkelin.
Durch meine (inzwischen zwei) Enkelinnen entdecke ich die Welt wieder neu und spielerisch.
Als ich dann im Frühjahr die Druck­vorlage meines Buches Mensch, Oma!* in der Hand hielt und nach langer Zeit die Geschichten wieder las, war ich erstaunt. Manches hatte ich vergessen und las es wie neu. Ich fragte mich, wie es sein kann, dass sie so vergnüglich waren? Ja, ich musste selbst oft lachen, obwohl sie doch in einer für mich ziemlich düsteren Zeit entstanden sind.
Aber so ist das Leben vielleicht. Selbst wenn es in Kopf und Herz und Seele finster ist, scheint es einen Teil in uns zu geben, der heil ist und unverletzt und wo wir noch Kind sind, uns freuen können, voller Staunen sind und die Gewissheit haben, dass das Leben schön ist.
Arbeit? Spiel? Eine spielerische Arbeit? Ein ernsthaftes Spiel. Vielleicht so …
Ich wünsche allen, dass sie mit Kindern – egal, ob eigene oder Enkelkinder oder irgendwelche Kinder – wieder lernen, das zu bemerken, worauf es eigentlich ankommt. Mensch, Nora. Wer hätte das gedacht?